Vom Luxusgut zum Massenartikel
Vor 625 Jahren ging die erste Papiermühle in Deutschland in Betrieb - in Franken ist das alte Handwerk lebendig
»Das papierlose Büro bleibt eine Utopie wie das papierlose Klo« - mit diesem Spruch bewirbt der Branchenverband der Papierindustrie ein besonderes Jubiläum. Als der Nürnberger Ratsherr Ulman Stromer im Jahr 1390, also vor 625 Jahren, die erste Papiermühle in Deutschland in Betrieb nahm, konnte er nicht ahnen, welche gewaltige Entwicklung die Papiermacherkunst nehmen und wie Papier die Geschicke der Welt begleiten würde.
2015 ist die deutsche Papierindustrie die Nummer eins in Europa, die Nummer vier weltweit - und eine Gesellschaft ohne Papier ist auch künftig kaum denkbar. Aus dem Luxusartikel Papier wurde eine Massenware. Während der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch um 1800 bei einem halben Kilogramm Papier lag, waren es um 1900 schon 15 und sind es heute rund 225 Kilogramm. Derzeit werden um die 3000 verschiedene Papier- und Kartonsorten für Verpackung, Druck und Presse sowie für Büro und Spezialbedarf produziert.
Im Winzerort Homburg am Main in Bayern wird die Geschichte der Papierkunst lebendig - unter dem markanten pagodenartigen Walmdach der dortigen Papiermühle. In der originalen historischen Kulisse können die Besucher eine spannende Zeitreise durch die Geschichte des handwerklichen und industriellen Papiermachens unternehmen: Sie führt vom Wasserrad am Bischbach über den aus der Holzbütte geschöpften Papierbogen bis zur Papiermaschine und zum Trockenboden über drei Etagen. Einzigartig in Bayern sei, dass die komplette technische Anlage in den Produktionsräumen der Mühle erhalten ist, erzählt der Papiermacher und frühere Mühlenchef Kurt Follmer. Direkt neben den Arbeitsräumen befand sich die Wohnung der Papiermacherfamilie, um den Trockenboden bei Gewitter und Sturm schnell schließen und die Technik überwachen zu können.
Follmers Urgroßvater Johann kaufte die Papiermühle 1853. »Das Gebäude ist jedoch viel älter«, erläutert der Nachfahre. »Aus Wassermangel musste Leonhard Leinzinger 1807 seine aus dem 17. Jahrhundert stammende Papiermühle in Windheim am Rande des Spessarts Balken für Balken demontieren. Auf dem Main brachte er alles nach Homburg, wo die Mühle mit dem charakteristischen, dreistöckigen Dach wieder erstand.« Bis zur Betriebsaufgabe 1975 blieb die Mühle im Follmerschen Familienbesitz.
Doch inzwischen führt Kurt Follmers Sohn Johannes die Papiermachertradition fort - in der fünften Generation. Sein Vater Kurt demonstriert an der Bütte in der ehemaligen Leimküche das Papierschöpfen. Er lässt die Interessenten in den Faulkeller schauen, wo Lumpen aus Leinen und Baumwolle lagerten. Das waren die einzigen Faserrohstoffe für die Papierherstellung, bevor der Weber Friedrich Gottlob Keller aus Hainichen auf einem selbst gebauten, handbetriebenen Schleifapparat Holz zerfaserte und damit die Papierherstellung revolutionierte. Oft wurde 13 Stunden täglich geschöpft, dabei wurden dann mehr als 3000 Papierbogen von einem Trio aus Schöpfer, Gautscher und Leger erzeugt. Die Bogen wurden häufig in den gut belüftbaren Speichern der Papiermühlen zum Trocknen aufgehängt. Anschließend wurden sie gepresst, um die Oberfläche zu glätten, mit einem Achat-Stein poliert, sortiert und verpackt. Dann gingen sie zum Kunden.
In der Homburger Presse stecken noch immer die Bögen, die vor 40 Jahren das Ende der industriellen Papierproduktion am Bischbach markierten. Senior Kurt Follmer hält die letzten hier entstandenen Umlaufordner für bayerische Ministerien hoch. »Mit der Rundsiebmaschine, die meine Vorfahren hier ab 1887 einsetzten, konnten farbige Aktendeckel, Tabakpapiere, Fenster- und Filterpapiere hergestellt werden. In den 1930er Jahren spezialisierten wir uns auf Akten- und Packpapier.«
Nebenan betreibt nun Junior Johannes eine moderne Papiermacherwerkstatt, in der die klassische Papierherstellung eine stilechte Renaissance erlebt: Echte handgeschöpfte Büttenpapiere kommen Blatt für Blatt als Unikate aus seiner kleinen Manufaktur. Für den Chef haben der vierseitige Büttenrand und die feinraue Haptik der Oberfläche eine »individuelle Persönlichkeit«.
Heute werden die Papiere aus Homburg am Main von feinsinnigen Individualisten, »die für ihre Gedanken und Idee lebendige Partner suchen«, geschätzt. Linda Schwarz, eine bekannte Künstlerin aus dem benachbarten Schloss Homburg, nutzt auch das Follmer-Papier für ihre Drucke, die ohne Säure und Lösungsmittel auskommen: »Handgemachtes Papier adelt unsere Kunst.«
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