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Die Wiederbelebung von Schacht 371

Eine temporäre Ausstellung erzählt die Geschichte der Wismut und des Uranbergbaus im Erzgebirge

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Wismut betrieb im Laufe der Jahrzehnte rund 400 Schächte samt Fördertürmen. Sie alle sind abgebrochen – bis auf den Turm von Schacht 371
Die Wismut betrieb im Laufe der Jahrzehnte rund 400 Schächte samt Fördertürmen. Sie alle sind abgebrochen – bis auf den Turm von Schacht 371

Was wollte ein Bergmann in der Grube mit einer Nivea-Dose? Unter Tage war es staubig; die Kumpel, die nach Ende ihrer Schicht den Förderkörben entstiegen, hatten nicht nur erschöpfte, sondern auch von Dreck verschmierte Gesichter. Für Körperpflege, noch dazu mit einer fettigen Hautcreme, bestand unter Tage kein Bedarf. Wozu also Nivea?

Michael Heuser erklärt den Verwendungszweck. Für eine Ausstellung mit dem Titel »No Secret«, die in diesem Sommer im Maschinenhaus des ehemaligen Schachts 371 bei Aue-Bad Schlema auf die Geschichte der Wismut und der Uranförderung im Erzgebirge zurückblickt, hat der frühere Bergmann den Inhalt seiner Arbeitstasche in einer Vitrine ausgebreitet und in einem Video beschrieben: die Grubenlampe, einen Maulschlüssel und den Schlüssel, mit dem er unter Tage die von ihm gesteuerte E-Lok in Gang setzte; außerdem ein Notizbuch, seinen Betriebsausweis Nummer 92704 für den VEB Jugendbergbaubetrieb »Ernst Thälmann« – und schließlich die Cremedose. Diese enthielt rosa Ohrstöpsel gegen den Lärm im engen Schacht und, mindestens genauso wichtig, ein 50-Pfennig-Stück, mit dem er sich in der unterirdischen Steigerstube einen Kaffee holen konnte.

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Heuser war einer von 3000 Bergleuten, die jeweils allein an diesem Standort in einem der wichtigsten und zugleich von Geheimnissen umwitterten Unternehmen der DDR arbeiteten: der Wismut, die kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als sowjetischer Reparationsbetrieb gegründet und 1954 in eine Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) umgewandelt wurde. Ihr Name war bewusst irreführend gewählt. Dem Unternehmen oblag nicht die Förderung des gleichnamigen Schwermetalls, sondern von radioaktivem Uran, das im Erzgebirge in großen Lagerstätten vorkam und in der UdSSR als Kernbrennstoff für Atomkraftwerke, vor allem aber für die Produktion von Atomwaffen benötigt wurde. Mit diesen wurde in den Jahren des Kalten Kriegs das »Gleichgewicht des Schreckens« zwischen Nato und Warschauer Vertrag aufrechterhalten. »Ohne die Wismut«, sagt Julia Dünkel, »wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen.«

Dünkel ist Geschäftsführerin der 2021 gegründeten Wismut-Stiftung. Diese soll das Erbe des Bergbauunternehmens bewahren und präsentieren – ein Erbe, das einerseits bei vielen im Erzgebirge noch präsent ist, weil über Jahrzehnte in fast jeder Familie jemand im Uranbergbau tätig war: »Das prägt die Identität der Region bis heute stark«, sagt Dünkel. Andererseits gerät es jenseits des Kreises der Zeitzeugen zunehmend in Vergessenheit. Die Kulturwissenschaftlerin Andrea Geldmacher, die die Ausstellung in Schacht 371 kuratiert hat und zuvor überwiegend zur Geschichte der Textilindustrie arbeitete, räumt ein: »Ich wusste über das Thema fast nichts.«

Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte man im westlichen Erzgebirge gar nicht anders, als auf die Wismut zu stoßen. Deren Wirken veränderte die Landschaft grundlegend. Wälder wurden abgeholzt, gigantische Halden aufgetürmt, Ortsteile ausradiert. Allein im Revier um Aue und Schlema, unter denen sich die weltgrößte Lagerstätte von Uranerz befand, wurden Stollen und Gänge von insgesamt 4200 Kilometern Länge ins Gebirge getrieben. Der Abbau war eigentlich höchst unrentabel; der Urangehalt des Gesteins lag bei nur 0,1 Prozent. Zwischen 1946 und 1990 wurden allein aus dieser Grube dennoch 80 500 Tonnen gefördert. Dabei entstanden sagenhafte 45 Millionen Kubikmeter Abraum, die auf 42 riesigen Halden aufgetürmt wurden. Das liebliche Erzgebirge wurde zur Mondlandschaft.

Inzwischen ist davon kaum noch etwas zu sehen. Seit 1991 ist die heutige Wismut GmbH im Auftrag des Bundes mit der Sanierung der Hinterlassenschaften des Uranbergbaus befasst. Es ist ein weltweit beispielloses Unterfangen, für das bisher 7,3 Milliarden Euro ausgegeben wurden. Gruben wurden geflutet, Halden abgetragen, Teiche voller radioaktiver Schlämme gereinigt. Die einstige Bergbaustadt Schlema ist jetzt Kurbad. »Die Sanierung«, sagt Dünkel, »lässt die Zeugnisse der Geschichte nach und nach verschwinden.«

»Die Sanierung lässt die Zeugnisse der Geschichte nach und nach verschwinden.«

Julia Dünkel Wismut-Stiftung

Das gilt auch für Schacht 371. Das darunter liegende gewaltige Bergwerk ist geflutet; der Zugang wurde 2011 mit Beton verschlossen. Einige Kilometer entfernt in Oberschlema liefen die Arbeiten noch, sagt Andy Tauber. Er leitet die örtliche Niederlassung der Wismut, in der noch 140 Mitarbeiter beschäftigt sind. Wer sich dem Standort durch das Tal der Zwickauer Mulde nähert, fährt wieder an bewaldeten Hügeln vorbei. Bei vielen handelt es sich um ehemalige Halden, die begrünt wurden. Auf ihren Flanken entstehen ökologisch wertvolle Blühwiesen, die auch bei Imkern beliebt sind: »Da entsteht guter Honig«, sagt Tauber. Ein Bienenvolk lebt auch im Mauerwerk des Maschinenhauses von Schacht 371. An einem Spalt neben einem Stahlträger herrscht reger Flugbetrieb. Der imposante Bau wird von einem 50 Meter hohen stählernen Förderturm überragt. Er ist, wie Tauber betont, der letzte von einst 400 Schächten der Wismut in der Region: »Alle anderen sind abgebrochen.«

In diesem Sommer richtet die Wismut-Stiftung im Maschinenhaus die »No secret«-Ausstellung aus – was kein einfaches Unterfangen war, sagt Dünkel: »Wir befinden uns hier immer noch im Strahlenschutzgebiet.« Um die temporäre Schau zu ermöglichen, die jeweils an den ersten Wochenenden der Monate Juni bis Oktober sowie am Tag des offenen Denkmals am 14. September zu besichtigen sein wird, seien das Gebäude »grundhaft gereinigt« und Zugangswege mit neuen Belägen versehen worden. Besucher werden durch einen abgezäunten Korridor zum Gebäude geführt, »gefahrfrei«, wie Dünkel betont.

Die Ausstellung soll dreieinhalb Jahrzehnte nach Ende des aktiven Bergbaus erstmals wieder einen umfassenden Blick auf die Geschichte der Wismut ermöglichen. Anlass war, dass Chemnitz im Jahr 2025 europäische Kulturhauptstadt ist; in der Stadt hatte die SDAG Wismut ihre Zentrale, und auch das Nachfolgeunternehmen und die Stiftung sind dort ansässig. Letztere plant für die Zukunft insgesamt drei »Präsentationsorte« für das Wismut-Erbe, sagt Dünkel: am Schacht 371, im ostthüringischen Ronneburg und in Form einer digitalen Präsenz im Internet. Wann es so weit sein könnte, ist völlig offen. Die Stiftung hat nur fünf Mitarbeiter. Für eine Dauerausstellung an Schacht 371 haben noch nicht einmal die Planungen begonnen. Bis sie eröffnet, »wird es dauern«, räumt Dünkel ein. Insofern biete die jetzige Schau eine seltene Gelegenheit: »Das ist etwas Außerordentliches.«

Die Schau liefert zum einen Einblicke in einen Betrieb, der strategisch höchst bedeutsam, aber auch für die DDR typisch war. Kuratorin Andrea Geldmacher lässt Beschäftigte unterschiedlichster Bereiche in Videosequenzen aus ihrem Arbeitsalltag berichten und versucht so, die körperlich extrem harte Arbeit ebenso anschaulich werden zu lassen wie die Freizeitgestaltung in Zirkeln und Sportgemeinschaften oder die komplexen technischen Abläufe. Blickfang ist das riesige Antriebsrad für die vier Förderkörbe, die in zwei Schächten auf- und niederfuhren, pro Stunde bis zu 410 Tonnen Erz und Gestein befördern konnten und zum Schichtwechsel in rasantem Tempo den Austausch von gut 1000 Beschäftigten ermöglichten: »Da standen jeweils 60 Leute im Förderkorb«, sagt Andy Tauber, »so viel wie in einem großen Bus.« Der Maschinist, der die Förderkörbe bediente, hatte keinen Blickkontakt in die Schächte. »Die Sicherheitsmaßnahmen waren trotzdem gut«, sagt Tauber: »Da ist nie etwas passiert.«

Katastrophen unter Tage ereigneten sich dennoch; 1955 etwa kostete ein Brand in der Grube 33 Kumpel das Leben, 106 erlitten schwere Rauchvergiftungen. Und auch, wenn es keine Unglücke gab, war die Arbeit hochgradig gefährlich. In den Anfangsjahren wurde unter mittelalterlichen Bedingungen mit Hammer und Schlägel gearbeitet, später trocken gebohrt. Der strahlende Staub schädigte die Gesundheit extrem. Und auch, wenn sich der Gesundheitsschutz später verbesserte, wurden bis 2015 bei den noch lebenden ehemaligen Wismut-Kumpeln über 38 500 Berufserkrankungen anerkannt, darunter 9500 Tumore und 17 000 Fälle von Silikose, einer durch Quarzstaub ausgelöste Lungenerkrankung.

Harte Arbeit, stolzer Beruf: Allein in Schacht 371 bei Aue und Schlema arbeiteten 3000 Kumpel
Harte Arbeit, stolzer Beruf: Allein in Schacht 371 bei Aue und Schlema arbeiteten 3000 Kumpel

Die enormen Gesundheitsgefahren waren in der DDR ebenso wenig Thema wie die riesigen Umweltschäden, die der Uranbergbau verursachte. Generell umgab diesen eine hohe Geheimhaltung nach außen und selbst im Inneren. »Jeder bei der Wismut sollte nur das wissen, was seine unmittelbare Tätigkeit betraf«, erinnert sich Frank Wolf, der heutige Unternehmenssprecher, der auch darauf hinweist, dass in internen Unterlagen stets nur von »Metall« die Rede gewesen sei, nie von »Uran«. Allgemein umgaben das Unternehmen, dessen Betriebsflächen anfangs von sowjetischem Militär bewacht wurden, viele Verbote. Verstöße wurden streng sanktioniert; die Ausstellung verweist für die Zeit bis 1953 auf 70 Todesurteile, die in Moskau vollstreckt wurden. Später lockerten sich die Bestimmungen. Ein »Staat im Staate« sei die Wismut aber bis zum Ende der DDR geblieben, sagt Julia Dünkel.

Die Ausstellung spricht alle diese Aspekte an – es gebe »keine Geheimnisse mehr«, begründet Dünkel deren Titel »No secret«. Auch mit einigen Mythen wird aufgeräumt, etwa dem, wonach die auf den Fördertürmen angebrachten roten Sterne nur leuchteten, wenn das Plansoll erfüllt war: »Das stimmte nicht«, sagt Kuratorin Geldmacher, die einen solchen Stern in die Ausstellung geholt und auch in deren Signet übernommen hat. Wann das Plansoll der Wismut-Sanierer erfüllt ist, bleibt derweil abzuwarten. Die Fördertürme seien verschwunden, die Bergwerke verschlossen, sagt Andy Tauber. Aber das Wasser und die mit Radon belastete Luft aus den Schächten müssen noch auf lange Zeit gereinigt, Halden und Gruben kontrolliert werden. Der Uranbergbau im Erzgebirge dauerte 41 Jahre. Seine Folgen zu beseitigen, sagt Tauber, »ist eine Aufgabe für die Ewigkeit«.

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