Medizin als ethische Gratwanderung

Gespräch mit Heinz-Peter Schmiedebach, dem bundesweit ersten Professor für Medical Humanities an der Berliner Charité, über den Nutzen grenzüberschreitender Ausbildungsinhalte für angehende Ärzte

  • Lesedauer: 5 Min.

In welchen Fragen geht die Professur über die bisherige Medizinethik und -geschichte hinaus?

Es gibt schon bisher Geschichte und Ethik als Pflicht- und Wahlpflichtfach. Hinzu kommt die Gestaltung eines Gedenkortes an der Charité. Da geht es um mehr als einen Gedenkstein irgendwo auf dem Gelände: Ziel ist eine dynamische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als auch mit der Gegenwart. Verantwortungsbewusstsein und Sensibilität für das eigene wissenschaftliche und praktische Tun sollen sowohl bei Studierenden als auch bei den Mitarbeitern entwickelt werden. Ich werde mich zwar auch in das normale Curriculum eintakten, aber Hauptanliegen ist die Gestaltung des Gedenkortes. Dafür gibt es bereits eine Arbeitsgruppe. Auch mit Vertretern der Universität der Künste, weil es eine Herausforderung ist, hier die Sinne anzusprechen und eine interaktive, nachhaltige Form zu finden.

Wie stark ist das Interesse der Studierenden für das Fach an sich?

Bisher tauchte das Fach eher im 3. und im 7. Semester auf. Außerdem melden sich Studierende zu Wahlpflichtveranstaltungen. In Hamburg kamen von etwa 400 Studierenden pro Semester etwa 10 Prozent, manchmal auch mehr, zu fakultativen Veranstaltungen. Einige davon sind auch bereit, in einer außercurriculären Arbeitsgruppe mitzuarbeiten - etwa bei der Gestaltung des Gedenkortes.

Der Querschnittsbereich »Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin« entstand erst in den 90er Jahren. Vorher gab es die Geschichte der Medizin, in der DDR wie in der BRD. Dann wurde die Umgestaltung des medizinischen Curriculums diskutiert, auch mit der Frage, ob man Fächer wie die Geschichte weiterbetreiben sollte. Medizinhistoriker schlugen vor, Geschichte mit Ethik zu verbinden. Das hat teils inhaltliche Gründe, wenn wir an den Hippokratischen Eid denken, der vor über 2000 Jahren ethische Grundsätze festhielt. Andererseits sind ethische Probleme etwa auch mit der genetischen Stammzellforschung verbunden - das lässt sich nur schwer historisch herleiten. Der Fächer-Querschnitt wurde 2004 in der Approbationsordnung verankert und ist seitdem Pflicht.

Kann das Fach verhindern, dass der ärztliche Grundsatz »primum nihil nocere« (zuerst einmal nicht schaden) verletzt wird?

Man kann keine erwachsenen Menschen zur Empathie mit Patienten nötigen. Man kann aber in der Ausbildung sensibilisieren - zum Beispiel durch historisches Wissen: Wo, unter welchen Bedingungen kam es zu medizinischen Verbrechen? Dann kommt man auf bestimmte Zusammenhänge, die der Medizin immanent sind. Sie ist eine Handlungswissenschaft - sie vollzieht an Patienten Handlungen. Wenn einem Patienten ein Bein amputiert wird, dann nicht, um ihn zu schädigen, sondern weil sonst vielleicht sein Leben gefährdet wäre. Man amputiert und macht ihn zum Krüppel. Das ist eine grundsätzliche Ambivalenz in der Medizin, dass Heilen häufig mit einer für den Patienten unangenehmen Intervention verbunden ist. Die Medizin fügt tatsächlich Schmerzen und Leiden zu. Meist gut begründet, weil es keine Alternative gibt.

Es kommt darauf an, zu erkennen, wann dieses Schädigen nicht mehr zu legitimieren ist. Die Medizin steckt in einem Dilemma. Wenn sie Medikamente testen will, gehört immer ein Risiko dazu. Testet sie nicht, kann sie nur eine weniger gute Therapie bereitstellen. Unter bestimmten politischen Bedingungen, wenn ethische Grundsätze relativiert werden, kann es schnell zu Verbrechen kommen. Werden bestimmte Menschen grundsätzlich als minderwertig bezeichnet, wird ihnen kein Lebens- oder Existenzrecht zugestanden, dann ist es nicht weit dahin, diese Menschen für medizinische Versuche zu benutzen.

In der Schweiz wurde vor fünf Jahren die Forschung an »urteilsunfähigen« Personen erlaubt.

Wenn wir unsere Medizin rational, evidenzbasiert aufbauen wollen, müssen wir auch Experimente mit Menschen machen, die als Gruppe - sozial, von der Krankheit her oder vom Lebensalter - sehr verletzlich sind. Was wir etwa mit Kindern machen, ist zum Teil problematisch. Wir nehmen Medikamente, die für Erwachsene zugelassen sind und reduzieren dann die Dosis nach Kilogramm Körpergewicht. Der kindliche Organismus weist aber ganz verschiedene Stoffwechselvorgänge auf, vollkommen andere als Erwachsene. Wir benutzen Medikamente, die man bei bestimmten Personengruppen nicht benutzen dürfte, weil sie dort nicht getestet sind. Das ist üblich, genügt aber eigentlich unseren Ansprüchen nicht.

Werden im Fach Medizinethik auch soziale Rollenbilder des Arztes diskutiert?

Ja, häufig. Wir wollen selbstverständlich den verantwortungsbewussten, sozial engagierten und empathischen Arzt. Man kann an Hand der Geschichte der Psychiatrie die Rollenbilder des Arztes sehr gut erörtern. Man kann es im Zusammenhang mit Experimenten und natürlich auch mit der Medizin der NS-Zeit. Es ist immer die Frage, wem sich der Arzt verpflichtet fühlt. Erst die Gesellschaft, die Gemeinschaft und dann der Patient? Oder umgekehrt? Bin ich ein Interessenvertreter der Patienten oder der Krankenversicherung oder einer Behörde?

Vor einigen Jahren wandten sich einige Mediziner dagegen, sich mit der Behandlung von aus Afghanistan rückkehrenden Bundeswehrsoldaten »instrumentalisieren« zu lassen.

Das ist die nächste Frage: Wen behandle ich? Das kann ich eigentlich nicht entscheiden. Ich als Arzt muss theoretisch jeden ohne Ansehen von Geschlecht, Herkunft oder Beruf behandeln. Sollen wir diesen Menschen jetzt bestrafen, weil er den Weg gewählt hat, Soldat zu sein? Dürfen wir uns das anmaßen? Dürfen wir nur einen Bankdirektor behandeln und keinen Bankräuber? Können wir das wirklich als Ärzte entscheiden? Wenn Sie da Grenzen errichten, nach eigener Überzeugung, wird es schwierig. Dann werden wir moralische Instanzen. Wir sollen politisch-moralische Instanzen sein - aber nicht an dem Punkt der Selektion von Patienten.

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