Kruzifixe und Provozierendes

Seit 400 Jahren wird im Südtiroler Grödnertal geschnitzt, doch die Traditionen ändern sich. Von Nicole Schmidt

  • Nicole Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Kamel, die Heiligen Drei Könige, Maria mit ihrem Kind, Hirten, Esel - alle sind überlebensgroß und wirken höchst lebendig. Staunend stehen die Besucher vor dem heimelig beleuchteten Stall am Sportcenter von Sankt Christina in Südtirol. Das sei, behauptet eine Einheimische nicht ohne Stolz, die größte handgeschnitzte Krippe der Welt. »So was kriegen eben nur die Grödner hin.«

Erstaunlich, was aus einem Holzstück alles werden kann. Um das zu erleben, sind die Besucher gekommen, sie wollen sich auf die Spuren der Herrgottschnitzer im Grödnertal machen. Dabei führt kein Weg an den Perathoners vorbei, einer Holzschnitzerdynastie in vierter Generation aus Sankt Ulrich, deren Spezialgebiet sakrales Holzkunsthandwerk ist. Bildhauermeister Herbert Perathoner lässt die Besucher gern über seine Schulter schauen. Gerade arbeitet er an einer Madonna, die bald ihre Reise nach Sizilien antreten und dort bei Prozessionen eine Hauptrolle spielen wird. Wie zart dieses Mariengesicht mit seinen ausdrucksstarken Augen und den vollen, weichen Lippen ist. Nur ein Bild hatte der Künstler als Vorlage, das Ergebnis verzaubert. »Byzantinische Kunst in Holz zu kopieren ist schwer«, sagt Perathoner. Der Umhang der über zwei Meter großen Holzdame ist noch nicht ganz fertig. Mit Holzschlegel und breitem Schnitzmesser macht er sich an die Grobarbeit. Span für Span fällt zu Boden. Später greift er zu filigraneren Schnitzwerkzeugen. Rund 40 liegen vor ihm, immer feiner werdend. »Zirbenholz eignet sich besonders zum Schnitzen. Es ist weich, hat keine Äste und lässt sich gut bemalen. Es wächst bei uns auf 1500 Meter Höhe«, sagt der Bildhauer und betrachtet sein Werk. Er ist immer noch nicht zufrieden. Sie brauche einen Heiligenschein. Und irgendwie fehle seiner Madonna noch ein wenig Leben. Da müsse er noch mal ran.

»Den Gesichtsausdruck einer schönen Frau hinzubekommen, das ist das allerschwierigste«, sagt er und eilt durch das kreative Chaos seiner Werkstatt. Halbfertige Heiligenfiguren stehen herum. Hände, Engelsflügel und das Ohr Michelangelos hängen neben Farbtöpfen und aufgeschlagenen Kunstbüchern. »Wenn man religiöse Figuren schnitzt und nicht dahinter steht, wird das nichts«, ist der gläubige Mann überzeugt. Er zeigt auf Mutter Theresa aus Zirbenholz, gütig blickend mit all ihren Falten, Papst Johannes Paul II. aus Linde, winkend und lächelnd, Christus am Kreuz, fast vier Meter hoch.

Die Schnitzwerke der Perathoners aus dem abgeschiedenen Dolomitental sind in 30 Ländern der Welt gefragt. »Es ist eine schöne Arbeit«, sagt der Meister. Erst fertigt er ein Gipsmodell, dann werden einzelne Holzbretter zu einem Block zusammengeleimt. »Seht her«, sagt der Mittsechziger zu seinen Besuchern und dreht schwungvoll die Figur um, »innen hohl«. Aber die Kür, das ist das Schnitzen. »Es ist ein Genuss, Holz wegzunehmen, bis eine Hand herauskommt.« Und immer wieder eine Herausforderung. »Jede Falte muss sitzen.«

Die Holzschnitzerei hat in Gröden schon seit 400 Jahren Tradition. Das 25 Kilometer lange Tal mit den Orten Sankt Ulrich, Sankt Christina und Wolkenstein im Herzen der Dolomiten gehörte früher zu den ärmsten Regionen Südtirols. Die Bergbauern hatten ihre Mühe mit dem kargen Boden, in schlechten Jahren mussten sie Kartoffeln und Rüben mit der Spitzhacke unter dem Schnee hervorholen. An den langen Winterabenden schnitzten sie, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Einige Bauern verkauften das Holzspielzeug, einfache Kreuze und Krippenfiguren auf Märkten oder gingen hausieren, andere arbeiteten im Auftrag von Händlern. So mancher der Talbewohner entwickelte im Schnitzen meisterliche Kunstfertigkeit. Einige reisten später sogar zur Ausbildung nach München, Wien, Rom oder Venedig. Schließlich entstanden in Sankt Ulrich und Wolkenstein Kunst- und Schnitzschulen. Ende des 19. Jahrhunderts war die Nachfrage nach Kruzifixen, Heiligenfiguren, Krippen, Reliefs, Altären, Uhrenständern und Konsolenstützen so groß, dass drei Viertel der Grödner gutes Geld damit verdienten.

In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden die ersten Kopierfräsen zur maschinellen Herstellung von Holzschnitzereien, die Massenproduktionen ermöglichten, was den Handwerkern immer mehr zu schaffen machte und noch immer macht. Ein fünfzig Zentimeter großer Jesus aus Echtholz, aber in weiten Teilen industriell als Massenware gefertigt, ist heute für 50 Euro zu haben. Für eine handgefertigte Schnitzfigur muss man das Zehnfache bezahlen. Da entscheiden sich immer mehr für die Billigvariante. Vielen ist es schlicht egal, ob die Heiligen Drei Könige wirklich handgeschnitzt sind oder nicht. Auf den ersten flüchtigen Blick ist der Unterschied für den Laien auch kaum zu erkennen.

Wie sollen die Holzschnitzer im Grödnertal da überleben können? »Wir kämpften für eine Schutzmarke, die inzwischen jede vollständig handgeschnitzte Skulptur trägt, eine runde Metallplakette. Und viele von uns haben sich längst auch auf moderne Kunst spezialisiert«, sagt Filip Moroder Doss. Der Künstler steht in seinem Atelier und freut sich über einen Auftrag für den Wallfahrtsort Fatima. Seine Krippe aus naturbelassenem Lindenholz - auch ein raumfüllendes Kunstwerk - hat nichts mehr zu tun mit der klassischen vor dem Sportcenter. Es sind nur stilisierte Figuren, und die Drei Könige tragen keine Kronen, »weil sie das Volk darstellen, das durch wunderbare Gaben zum König wird«, sagt Moroder Doss. Eine Figur blickt weg von allem - der verlorene, rastlose Sohn, aber er kann immer noch zurück. »Ein Sinnbild unserer Zeit«, philosophiert der Mann aus dem Grödnertal, dem Traditionsbewahrung sehr am Herzen liegt.

Filip Moroder Doss ist Präsident der Grödner Künstlervereinigung UNIKA, die für Unikate steht. Auch weniger bekannte Holzbildhauer erhalten dort eine Bühne. All diese Strategien hatten Erfolg. Heute produzieren im Grödnertal 60 Firmen Schnitzereien in Serienarbeit, daneben gibt es 120 Familien, die von handwerklicher Holzbildhauerei leben, wozu auch Fassmaler, Vergolder und Verzierungsbildhauer gehören. »Herrgottschnitzer, so wie es früher einmal hieß, sind wir schon lange nicht mehr«, räumt Moroder Doss auf mit einem für Außenstehende recht altmodischem Begriff. Für die Grödner klingt das abwertend, zu lapidar, zu sehr nach einfachem laienhaften Schnitzen. Sie wollen als Künstler wahrgenommen werden.

Gerhard Demetz hat das längst geschafft. Er stellt seine Arbeiten weltweit aus. Was der junge Künstler aus Wolkenstein in seinem Atelier zeigt, hat mit frommen und keuschen Heiligenfiguren so rein gar nichts mehr zu tun. Ein kleiner Junge mit altem Gesicht steht dort, hält gefesselt eine Säge, ein anderer hebt die leeren Hände hoch über den Kopf, am Gürtel ein Kreuz wie eine Waffe tragend. Provokante Skulpturen, die Demetz aus vielen kleinen einzelnen Holzstücken zusammensetzt. Er lässt bewusst Lücken dazwischen, verweist damit auf Unvollständigkeit. Was er damit sagen will? Vielleicht das Wertesystem der heutigen Gesellschaft hinterfragen? Kinder müssen zu schnell erwachsen werden? Ist Schuld genetisch? Er zuckt mit den Schultern, überlässt die Deutung dem Betrachter.

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