Mein Freund, der Baum

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.

Meine Tochter will einen Weihnachtswichtel basteln. Dafür braucht sie einen Tannenzapfen. »Kein Ding«, sage ich, »geh raus und hol dir einen«. Traurig schaut sie mich an: »Aber Papa, auf der Straße wachsen doch bloß Linden. An denen hängt nicht mal mehr ein Blatt, und ein Tannenzapfen schon gar nicht.«

Gott, können Kinder kompliziert sein. Als meine Tochter im Herbst vier Hundertschaften Kastanienmännchen basteln wollte, hat sie doch auch nicht gleich ein Drama daraus gemacht. Die Kastanien, die für vier weiter Hundertschaften ausreichen würden, liegen heute noch überall in der Wohnung. Und die sind ja wohl auch nicht an den Linden gewachsen. Außerdem sind damals sämtliche Streichhölzer im Haushalt als Ärmchen und Beinchen zweckentfremdet worden. Als treusorgender Vater habe ich natürlich rechtzeitig vor der Weihnachtszeit neue gekauft, damit wir die Kerzen anzünden können - nicht die der Kastanien, sondern die auf dem Adventsgesteck.

»Einen Tannenzapfen zu finden«, sage ich zu meiner Tochter und nehme sie bei den Händen, »ist bestimmt kein Problem in so einer großen Stadt wie Berlin«. Als erstes schlagen wir unser Notebook auf und googeln mal. Siehste! 437 964 Bäume, steht da, wachsen an Berlins Straßen. Da wird ja wohl eine Tanne dabei sein. Wir setzen uns aufs Sofa und gehen im Kopf durch unser Viertel. Gut, in unserer Straße gibt es wirklich bloß Linden. Das wissen wir, weil diese garstigen Bäume von April bis Oktober die geparkten Autos einsauen: im Frühling mit klebriger Brühe, später mit Blüten und Blättern. Im kleinen Park an der Ecke stehen die Kastanien, vielleicht ein Ahorn und noch ein paar andere Bäume, von denen wir gerade nicht wissen, wie sie heißen. Dass es sich nicht um Tannen handeln kann, schlussfolgern wir daraus, dass sie in letzter Zeit alle kahl sind.

Als nächstes geben wir in die Internet-Bildersuche den Volkspark Friedrichshain ein. Der ist zwar ein Stückchen entfernt, wäre aber durchaus mit dem Rad zu erreichen. Und was tut man nicht alles für die lieben Kleinen. Hunderte von Fotos ploppen auf dem Bildschirm auf, alle sind voller Grün. Aber alles Grün ist Laub. Eine Tanne entdecken wir nicht. Kann es sein, dass die komplette Innenstadt nadelbaumfrei ist? Das wäre mir doch aufgefallen.

»Kein Problem«, sage ich zu meiner Tochter und klappe den Computer zu. »Dann kaufen wir dir eben einen Tannenzapfen.« Clementinen- und Bananenbäume, denke ich, wachsen schließlich auch nicht in der Nachbarschaft, und trotzdem sind die Kaufhallen voll mit deren Früchten. Die einzigen Tannenzapfen, die es dann im Laden tatsächlich gibt, sind aber aus Schokolade.

Zum Glück sind wir unterwegs an einem dieser Freiluftgefängnisse für abgeschlagene Weihnachtsbäume vorbeigekommen. Wir gehen hinein und suchen an den Nordmanntannen nach Zapfen. Nichts! Am Ende kaufen wir einen der zapfenlosen Bäume und schmücken ihn zu Hause mit Klimbim. Ein selbstgebastelter Wichtel ist nicht dabei.

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