Das einfache Leben

Im Kino: »Unsere kleine Schwester« von Hirokazu Kore-Eda

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Film von vier Schwestern zwischen dreizehn und dreißig, die in einem großen alten Haus in einer Küstenstadt bei Tokio leben, sei, so heißt es, in Japan überaus erfolgreich gewesen. Das ist seltsam, denn eigentlich passiert gut zwei Stunden lang nichts Dramatisches. Man lebt eher still den Alltag zusammen, seit der Vater die Familie vor fünfzehn Jahren verlassen hat. Dann ging auch die Mutter fort, die Schwestern mussten sich selbst helfen - und dabei lernen, sich zu vertrauen.

Nun aber ist der Vater gestorben, irgendwo auf dem Land bei einer anderen Frau, und als die drei älteren Schwestern von der Beerdigung zurückkommen, sind sie vier. Sie haben die jüngste Tochter des Vaters, die dreizehnjährige Suzu, die sie hier zum ersten Mal sahen, ganz umstandslos eingeladen, bei ihnen zu wohnen. Jetzt ist also auch die Halbschwester im Haus dabei - und immer noch passiert nichts. Keine großen Konflikte, keine Abrechnung mit dem toten Vater, man bemüht sich umeinander, sieht über die Schwächen des anderen nicht hinweg, aber versucht, sie auszuhalten.

Die meiste Zeit sehen wir den vieren zu, wie sie essen, oder über das Essen sprechen, einkaufen und Essen kochen, nach dem Essen über das Essen philosophieren oder zusammen in einem Restaurant Essen gehen. Was ist das? Ein japanischer Erfolgsfilm?

»Unsere kleine Schwester« scheint den Nerv des jungen Japan getroffen zu haben. Das unglückliche Bewusstsein einer auf Tempo, Karriere und schrille Effekte trainierten Fast-Food-Generation verlangt offensichtlich nach einem meditativen Ruhepol. Man lebt heute in Japan in der Regel nicht in großen alten Häusern, hat keine Zeit, das Essen in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, Alltagsrituale zu zelebrieren, man ist im Gegenteil aufgeputscht und erschöpft, aggressiv und passiv zugleich. Die sich und die Welt bislang nur aus dem Spiegel ihrer iPhones kannten, sie begegnen sich mit gegenseitiger Schonung, ohne allzu hohe Ansprüche aneinander zu stellen. Sie spüren etwas wie Verantwortung für ihre Nächsten. Das ist, so scheint es, für das heutige Japan schon spektakulär genug. Und eine stille Erdung eines Lebens, von dem sie ahnen, dass es eigentlich das ihre ist, scheint der Film von Hirokazu Kore-Eda allemal.

Da wirkt dieser elegische Alltagsbilderbogen mit Kirschblüten und langen Spaziergängen am Meer wie eine mühsam erinnerte Utopie vom einfachen Leben. Es bedarf nur ein wenig guten Willens und eines gezügelten Egoismus und - plötzlich hat das Leben wieder einen Sinn!

Für den Erfolg von »Unsere kleine Schwester« aber ist noch etwas anderes verantwortlich, das ebenso irritiert. Der Film von den vier jungen Frauen basiert nicht auf einem Drehbuch, auch nicht auf einem Roman, sondern auf einem Manga, also einem jener Comics, die viele erwachsene Nicht-Japaner durch ihre penetranten großäugig-sentimentalen Mädchenfiguren bloß nerven.

Jedoch ist hier eine Verwandlung passiert: Die vier Schwestern, die uns Hirokazu-Eda zeigt, bezaubern durch ihre Natürlichkeit und Stille. Daraus, so scheint es, bezieht der Film seine Wirkung, rückt die falschen kommerziellen Idole der japanischen Jugend mit stiller Poesie ins richtige Licht - das des mühsamen Alltags, der aus tausend Dingen besteht, die es alle mit Aufmerksamkeit zu bedenken gilt. Es ist ein filmisches Tagebuch geworden, das mit präzise beobachteten Details zu bezaubern vermag. »Unserer kleine Schwester« verbreitet ein natürliches Licht, das das Leben auf unspektakuläre, aber eindringliche Weise entschleunigt.

Der Tod des Vaters wirkt nach. Der Verrat der Mutter, die die Mädchen in ihrem alten großen Haus zurückließ, ebenso. Aber abgerechnet wird hier nicht, nur manchmal schreit eine der Schwestern kurz ihren Schmerz heraus, aber echte Japaner weinen nicht. Stattdessen isst man, spricht auch darüber, welche Gerichte der Vater bevorzugte, erinnert sich an die Kindheit. Das alles klingt durchaus bedenklich nach ein bisschen Frieden und ist darin durchaus ein bisschen konservativ.

Doch das Bedürfnis nach Ruhe und Vergewisserung des eigenen Herkommens, von Familie, aber nicht nur im traditionellen Sinne, von Geborgenheit und Nachsicht statt permanenten Leistungsdrucks und Selbstperformance, das ist unbedingt echt an »Unsere kleine Schwester«.

Und am Ende, so scheint es, hat diese schöne Utopie vom einfachen, aber sinnvollen Leben doch auch mit uns zu tun.

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