Stand auf Facebook

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Einer der zentralen Begriffe in der Medientheorie lautet »Relevanz«. Demnach muss der Sender einer Nachricht darauf vertrauen können, dass seine Zuhörer die richtigen Schlussfolgerungen aus seinen Äußerungen ziehen. Andernfalls redet man sprichwörtlich aneinander vorbei. In der Praxis kommt es diesbezüglich immer wieder zu Missverständnissen. Dies vor allem dann, wenn das Gesendete satirisch gemeint ist, sich jedoch als seriöse Meldung tarnt. So hatte die Satire-Seite Postillon (der-postillon-com) im August im Stil einer Nachrichtenagentur berichtet, dass im sächsischen Heidenau ein syrischer Flüchtling seinen Unterkiefer ausgerenkt und vor den Augen entsetzter Passanten ein fünfjähriges blondes Mädchen bei lebendigem Leib verspeist habe.

Die Fake-Meldung wurde anschließend u.a. über Facebook verbreitet und tauchte vor Wochenfrist unvermittelt in einer Dokumentation des NDR (ndr.de) über das Städtchen Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern auf. Darin berichten drei Jugendliche von Gerüchten über vergewaltigende Asylbewerber, die in Boizenburg die Runde machen. Und eine der Jugendlichen erzählt: »Eine Fünfjährige wurde gegessen. Lebendig! Vom Flüchtling! Stand auf Facebook!«

Dass nicht allen Empfängern immer klar ist, dass es sich bei den Texten des Postillon um Satire handelt, ist nicht ungewöhnlich; mehrfach fielen bereits auch Journalisten auf die Fake-News herein. Das kurze Interview mit den Boizenburger Jugendlichen aus der insgesamt etwa halbstündigen Dokumentation machte in den vergangenen Tagen jedoch eine unrühmliche Karriere. Laut meedia.de erschien im Blog buntesamt.blogspot.de am 12. Dezember eine knapp 30 Sekunden lange Sequenz, die sich rasch in den sozialen Netzwerken verbreitete. Der Videoschnipsel bricht aber vor dem Hinweis der drei Jugendlichen ab, dass sie die Geschichte mit dem kleine Mädchen fressenden Flüchtlingen von Facebook haben. Es fehlt zudem ein Ausschnitt in der durchaus differenziert berichtenden Doku, in dem zu sehen ist, wie sich eine der Jugendlichen mit Flüchtlingen unterhält und dabei sogar einige Worte auf Arabisch sagt.

Doch selbst dann, wenn die Drei von der Wahrhaftigkeit der Gerüchte überzeugt sein sollten, ist der Fall nicht so eindeutig, wie er den meisten Facebook-Nutzern erscheint. In dem sozialen Netzwerk äußerte sich eine Nutzerin, die angibt, eines der beiden Mädchen bei einem Praktikum betreut zu haben. Die Jugendlichen seien ehemalige Förderschüler, weshalb sie es als »grenzwertig« empfinde, »sie vor eine Kamera zu stellen und sie lächerlich machen zu lassen«, kritisiert die Frau auf der Facebook-Seite des NDR. Und sie ergänzt: »Natürlich glauben sie dem Artikel des Postillon und anderen FB-Postings, aber nicht, weil sie keine Satire verstehen, sondern weil ihnen allgemein das Verständnis dafür fehlt«.

Auf buntesamt.blogspot.de ist das Video nach wie vor zu sehen, seit einigen Tagen jedoch in der verlängerten Version.

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