»Das Problem betrifft nicht nur Arbeitslose«

Verbraucherschützerin Claudia Schöllgen über Gründe für die zunehmende Zahl von Stromsperren gegen säumige Zahler

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Linksfraktion scheiterte am Donnerstag im Bundestag mit ihrem Antrag, Stromsperren gesetzlich verbieten zu lassen. Im nd-Interview spricht Verbraucherschützerin Claudia Schöllgen über die Rekordzahlen bei Stromsperren und den gesetzlichen Reformbedarf in Deutschland.

Die Wirtschaft boomt, der Arbeitsmarkt floriert, trotzdem erreichte die Zahl der Stromsperren im vergangenen Jahr ein Allzeithoch. Mehr als 351 000 Haushalten wurde der Strom abgedreht, weil sie Schulden bei den Versorgern hatten. Woran liegt das?
Es gibt viele Ursachen für Energiearmut. Dass Menschen ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können, liegt einerseits an den immer noch sehr hohen Preisen, andererseits auch an den sehr geringen Einkommen der Betroffenen. Allein in unserem Projekt haben fast 90 Prozent der Ratsuchenden kein pfändbares Einkommen. Das heißt, das Einkommensniveau ist sehr gering. Dazu kommt, dass vielen Betroffenen die Finanz- und Planungskompetenzen fehlen. Bei Vielen summieren sich zudem die Schulden, auch aus anderen Verpflichtungen, etwa beim Telefonanbieter. Sie geraten in einen Schuldensog.

Sind Stromsperren also vor allem ein Problem von Hartz-IV-Beziehern?
Nein, das Problem betrifft nicht nur Arbeitslose. Über die Hälfte der Ratsuchenden, die zu uns kommen, beziehen kein Hartz IV. Die gehen einer ganz normalen Erwerbstätigkeit nach. Mehr als ein Viertel ist erwerbstätig. Etwa 15 Prozent der Betroffenen sind Rentner, und dann haben wir noch einige, die erst vor Kurzem aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind.

Zur Person

Claudia Schöllgen arbeitet für die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen und leitet dort das Projekt »NRW bekämpft Energiearmut«.

Warum drehen die Anbieter ihren Kunden so schnell den Strom ab? Und dürfen sie die Menschen überhaupt im Dunkeln sitzen lassen?
Die gesetzlichen Vorgaben besagen lediglich, dass vier Wochen vor der Sperre eine Androhung erfolgen muss und noch mal drei Werktage vor dem Abschalten eine letzte Warnung. Zudem müssen sich die Schulden des Kunden auf über 100 Euro belaufen.

Die Frist sollte doch reichen, um die Schulden zu begleichen …
Also wenn Sie mal in die Bredouille kommen, dass Sie vorübergehend arbeitslos sind oder krank werden, nur Krankengeld beziehen und haben dann einfach mal für ein, zwei, drei Monate vielleicht weniger Geld, dann sind Sie ganz schnell mit einem Abschlag in Verzug. Bei einer vierköpfigen Familie etwa liegt der Abschlag oft über 100 Euro, also bereits über der Grenze, aber der gesperrt werden kann.

Und schon sitzt man im Dunkeln?
Da helfen dann nur noch die gesetzlichen Vorgaben, die besagen, wenn es nicht verhältnismäßig ist, zu sperren, dann darf nicht gesperrt werden. Wenn die Konsequenzen, die sich aus der Sperre ergeben, härter sind als das was vorliegt, nämlich knapp 100 Euro Außenstände, dann haben Schuldner gute Chancen, vor Gericht auch zu gewinnen. Erst recht wenn es sich um eine Familie handelt, die zudem darlegen kann, warum ein Abschlag nicht bezahlt wurde.

Aber ist es nicht ohnehin unverhältnismäßig, Menschen den Strom abzustellen?
Ja, auf jeden Fall. Deswegen sagen wir, dass Elektrizität ein essenzielles Gut ist, ohne das man kein menschenwürdiges Leben führen kann.

Welche Alternativen zur Abschaltung gäbe es?
Etwa den Einbau von Prepaid-Zählern, so würden keine Schulden auflaufen. Oder eine Stundung der Verbindlichkeiten, wenn jemand hinreichend darlegen kann, dass er in zwei Monaten wieder einen Job hat, dann sind wir der Meinung, sollte der Versorger stunden müssen. Zudem müsste es eine Verpflichtung für die Stromanbieter geben, eine Ratenzahlung zu ermöglichen.

Bieten die Unternehmen nicht jetzt schon Ratenzahlungen an?
Also ein Drittel der 79 Versorger, die wir befragt haben, bestätigte uns, dass sie keine Ratenzahlung mehr anbieten, nachdem die Sperre erfolgt ist. Auch bei Abschlägen tun sich viele Firmen schwer. Nur wenige akzeptieren hier Ratenzahlungen. Zudem ist die Länge der Zahlungen ein Problem. Ein Abstottern über mehr als sechs Monate akzeptiert kaum ein Versorger.

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