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Wenn die Raumzeit erbebt

Der Nachweis von Gravitationswellen könnte der Physik neue Horizonte eröffnen. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit der Entdeckung des Higgs-Bosons im Juli 2012 hat keine andere Nachricht aus der physikalischen Grundlagenforschung mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregt: Ende der vergangenen Woche gaben Wissenschaftler des Laser-Interferometer-Gravitationswellen-Observatoriums (LIGO) auf einer Pressekonferenz den Nachweis von Gravitationswellen bekannt. Das schwache Beben der Raumzeit, das damit verbunden war, wurde aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Fusion von zwei Schwarzen Löchern ausgelöst.

Sollten sich, wofür vieles spricht, die LIGO-Messungen als korrekt erweisen, wäre damit ein direkter Beleg für ein Phänomen erbracht, das von Albert Einstein bereits vor 100 Jahren vorausgesagt worden war. Doch so geradlinig, wie mancher sich das vielleicht vorstellt, verlief die Entdeckung der Gravitationswellen nicht. Im Gegenteil. Bei der Suche nach Lösungen der Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie verhedderte sich Einstein zunächst. Im Februar 1916 teilte er dem deutschen Astronomen Karl Schwarzschild, der sich gerade als Soldat an der Ostfront aufhielt, in einem Brief mit: »Es gibt also keine Gravitationswellen, welche Lichtwellen analog wären.« Im März 1916 kehrte Schwarzschild als Invalide von der Front zurück; zwei Monate später starb er. Zuvor jedoch war es ihm gelungen, die Eigenschaften von kosmischen Objekten zu berechnen, die man heute Schwarze Löcher nennt und an deren Existenz Einstein zeitlebens nicht glauben wollte. Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass für den jetzt erbrachten Nachweis von Gravitationswellen die Existenz Schwarzer Löcher eine essenzielle Voraussetzung war.

Mitte des Jahres 1916 indes galten beide Phänomene noch als reine Kopfgeburten. Auch Einstein war inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass Gravitationswellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, aus der Allgemeinen Relativitätstheorie ableitbar sind. Am 22. Juni 1916 teilte er dies den Mitgliedern der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit. Eines jedoch verwunderte ihn. Aus seinen Berechnungen folgte nämlich, dass es mehrere Typen von Gravitationswellen gibt, von denen manche die merkwürdige Eigenschaft haben, keine Energie zu transportieren.

Es dauerte einige Zeit, bis Einstein hier für Klarheit sorgte. Im Januar 1918 veröffentlichte er erneut einen Aufsatz »Über Gravitationswellen«, indem er nicht nur einen »bedauerlichen Rechenfehler« korrigierte. Er wies auch darauf hin, dass im Wesentlichen nur ein Typ von Gravitationswellen existiere. Dagegen entstünden die Wellen, die keine Energie transportierten, durch bloße Koordinatentransformation. Ihre Existenz sei mithin nur eine scheinbare.

Wie aus Einsteins Formeln hervorgeht, sind für den Nachweis von Gravitationswellen höchst empfindliche Geräte vonnöten, die den Physikern lange nicht zur Verfügung standen. Zudem ist es auf der Erde derzeit nicht möglich, nachweisbare Gravitationswellen im Labor zu erzeugen. Nur von kosmischen Massen abgestrahlte Wellen der Schwerkraft können gemessen werden. Da jedoch niemand weiß, wann ein solches Signal auf die eigens hierfür konstruierten irdischen Detektoren trifft, brauchen Physiker bei dieser Art von Forschung extrem viel Geduld.

Laut der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Gravitation keine Kraft im Sinne Newtons. Sie geht vielmehr auf die Krümmung der Raumzeit zurück, die von massiven Körpern hervorgerufen wird und zugleich deren Bewegung bestimmt. Wer will, kann darin ein schönes Beispiel für Naturdialektik sehen. Gravitationswellen entstehen dann, wenn Massen beschleunigt werden, etwa wenn ein Stern in einer Supernova explodiert oder zwei Schwarze Löcher fusionieren. Dabei kommt es zu Verzerrungen der Raumzeit, die sich mit endlicher Geschwindigkeit ausbreiten.

Mit dem Nachweis von Gravitationswellen tut sich für den Menschen ein neues Fenster zum Kosmos auf. Oder, wie Harald Lück vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik sagt: »Gravitationswellen ermöglichen es uns, die dunkle Seite des Universums zu erforschen.« Denn viele kosmische Objekte sind für uns unsichtbar, da sie keine Strahlung im elektromagnetischen Spektrum aussenden. Sie verraten ihre Existenz gegebenenfalls durch Veränderungen ihrer Schwerkraft bzw. durch Gravitationswellen, die sich ungehindert in Materie fortpflanzen können.

Was ihre Entdeckung für die Physik bedeutet, haben die LIGO-Forscher jetzt im Fachblatt »Physical Review Letters« (DOI: 10.1103/ PhysRevLett.116.061102) dargelegt. So sei erstmals ein indirekter Beweis dafür erbracht worden, dass es Schwarze Löcher mit mehr als 25 Sonnenmassen gibt. Zuvor war deren Existenz ebenso bezweifelt worden wie die von sich eng umkreisenden Paaren von Schwarzen Löchern, bei deren Verschmelzung bekanntlich die gemessenen Gravitationswellen entstanden waren.

Andere wichtige physikalische Fragen gilt es dagegen noch zu beantworten. Drei seien hier genannt. Erstens: Breiten sich Gravitationswellen tatsächlich mit Lichtgeschwindigkeit aus? Wenn nicht, könnte das postulierte Überträgerteilchen der Schwerkraft, das Graviton, eine endliche Ruhemasse besitzen. Zweitens: Sind Neutronensterne rund? An sich halten das die meisten Physiker für plausibel. Denn Neutronensterne entstehen, wenn stellare Objekte unter ihrer eigenen Masse kollabieren. Wegen der extrem starken Gravitation sollte sich die Sternenoberfläche dabei zu einer glatten Kugel formen. Einige Forscher vertreten jedoch die These, dass sich auf dieser Kugel winzige, nur wenige Millimeter hohe »Berge« befinden. Stimmt das, wäre die daraus resultierende asymmetrische Masseverteilung an einem typischen Gravitationswellensignal erkennbar. Drittens: Wie schnell expandiert das Universum? Wegen Unsicherheiten bei der Messung der Rotverschiebung gibt es hierauf derzeit keine befriedigende Antwort. Mittels Gravitationswellen könnte sich jedoch eine neue Messmethode ergeben, die es erlaubt, die kosmische Expansionsrate genauer zu berechnen.

Die Entdeckung von Gravitationswellen ist zweifellos ein beeindruckender Beleg für die Fähigkeit des Menschen, die Grenzen der sinnlich erfahrbaren Welt theoretisch wie experimentell weit zu überschreiten. Dabei wirft jede Erkenntnis neue Fragen auf. Fragen, die zeigen, dass das oft geweissagte Ende der Physik noch in weiter Ferne ist.

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