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Keine Physik ohne Raum und Zeit

Von Kants Formen der Anschauung bis zur Relativitätstheorie

  • Rainer Schimming
  • Lesedauer: 7 Min.
Von der Raumzeitkrümmung war Kant mit seinen Formen reiner Anschauung noch weit entfernt.
Von der Raumzeitkrümmung war Kant mit seinen Formen reiner Anschauung noch weit entfernt.

Raum und Zeit sind allgegenwärtig. Jedes Ding hat einen Ort im Raum, jedes Ereignis geschieht in einem Moment oder während einer Zeitspanne. Dieser Universalität sind auch Leben und Treiben der Menschen unterworfen. Raum und Zeit erscheinen uns alltäglich und dennoch als rätselhaft: Lassen sie sich auf noch Grundlegenderes zurückführen? Sind Raum und Zeit objektiv oder subjektiv, das heißt Elemente der Wirklichkeit oder nur menschliche Vorstellungen? Wie verhalten sich die Entitäten Raum und Zeit, Materie, Mensch zueinander?

Das sind gewichtige philosophische Fragen. Große Denker der Epoche der Aufklärung suchten nach Antworten. Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant legten drei grundverschiedene Konzepte vor. Diese lassen sich am besten durch Gegenüberstellung verstehen. Kant wurde am 22. April vor 300 Jahren in Königsberg geboren. Das Jubiläum ist Anlass zu der vorliegenden Betrachtung.

Vor der Materie oder an sie geknüpft

Isaac Newton (1643–1727) eröffnete sein Hauptwerk »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica« (»Die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie«) von 1687 mit Bestimmungen von Grundbegriffen der Physik, Raum und Zeit eingeschlossen. Er grenzt den einen »wahren Raum« und die eine »wahre Zeit« von den vielen situationsbedingten »relativen Räumen« und »relativen Zeiten« ab. Die wahren Entitäten seien absolut, das heißt von nichts abhängig und unveränderlich. Den absoluten Raum kann man sich als idealen Behälter vorstellen, der die Materie beherbergt, aber dabei unbeeinflusst bleibt. Die absolute Zeit kann man sich als die Anzeige einer idealen Uhr vorstellen, die der Materie störungsfrei den Takt vorgibt. Der Meister beschreibt dies so: »Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich (…) Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.«

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Zeitgenosse und fachlicher Konkurrent von Newton, sah es ganz anders: Raum und Zeit seien relativ, nämlich der Materie anhängende Relationen. Der Raum repräsentiere alle Lagebeziehungen, die Zeit sei die Relation des Nacheinander. Ohne Materie gäbe es die in Rede stehenden Entitäten gar nicht. In seiner wissenschaftlichen Korrespondenz erläutert Leibniz: »Ist aber der Raum nichts anderes als die Ordnung und Beziehung der Körper selbst (…) Die Zeit ist das Maß der Bewegung.«

Vor und nach der Erfahrung

Es blieb nicht bei der auf Newton und Leibniz zurückgehenden Dichotomie absolut versus relativ. Immanuel Kant (1724–1804) legt in seinem Werk »Kritik der reinen Vernunft« von 1781 eine dritte Ansicht vor. Zunächst entwickelt er eine eigene philosophische Terminologie: A priori bedeutet vor der Erfahrung, a posteriori bedeutet nach der Erfahrung. Anschauung bedeutet auf äußere Gegenstände bezogenes Denken. Reine Anschauung meint Anschauung a priori. Derart begrifflich ausgerüstet behauptet Kant: Raum und Zeit sind Formen reiner Anschauung und dabei »Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung«. Etwas anders gesagt: Raum und Zeit sind von Geburt an mitgebrachte Vorstellungen des Menschen; diese Ausstattung wird nötig gebraucht, um aus rohen Empfindungen brauchbare Erfahrungen zu gewinnen. In der »Kritik der reinen Vernunft« schreibt Kant: »Damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (...), muss die Vorstellung des Raumes schon zum Grund liegen (…) Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer Anschauung.«

Die philosophischen Richtungen Empirismus und Rationalismus streiten darüber, wie Erkenntnis zustande kommt, ob Sinneseindrücke oder Verstandesüberlegungen entscheidend sind. Kant meint nun, dass beide – das Objektive und das Subjektive – zusammenkommen müssen. Er führt dies ausdrücklich anhand von Raum und Zeit näher aus. Er wird in dem erkenntnistheoretischen Zusammenhang so zitiert: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«

Es gibt nicht nur eine Geometrie

Weil Raum und Zeit universal sind, befassen sich viele (im Grunde alle) Wissenschaften damit. Historisch gingen von der Mathematik bedeutende Anregungen aus: Im 19. Jahrhundert kamen alternative Geometrien als logisch konsistente Theorien auf, alternativ zu der nach Euklid benannten und seit jeher in der Schule gelehrten Geometrie.

Besonderes Interesse fanden die sphärische Geometrie und die sogenannte hyperbolische Geometrie in drei Dimensionen, zusammengefasst als nichteuklidische Geometrien bezeichnet. Es gibt zweidimensionale Modelle, also Flächen, zu den damals neu aufgekommenen Theorien. Die Kugeloberfläche, auch Sphäre genannt, trägt eine sphärische Geometrie; gewisse hyperbelähnliche Rotationsflächen tragen eine hyperbolische Geometrie. Analoge Modelle gibt es in drei Dimensionen, ja in jeder Dimension.

Die Mathematik hat kein Problem mit höheren Dimensionen. In mathematischer Hinsicht sind die euklidische Geometrie, die sphärische Geometrie und die hyperbolische Geometrie gleichwertig. Und in physikalischer Hinsicht, das heißt die reale Welt betreffend? Das fragten sich schon Carl Friedrich Gauß (1777–1855) und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski (1792–1856), die Erfinder der nichteuklidischen Geometrien. Sie dachten sich großräumige praktische Messungen aus, um zwischen euklidisch oder nichteuklidisch zu entscheiden. Die »wahre« Struktur des Raums wurde zu einer Frage a posteriori, nicht a priori. Der erkenntnistheoretische Apriorismus verlor an Überzeugungskraft.

Raum und Zeit als Konventionen

Der Mathematiker Henri Poincaré (1854–1912) griff in die Debatte ein mit der kuriosen Ansicht, euklidisch oder nichteuklidisch sei nur eine Frage des theoretischen und praktischen Instrumentariums; man bekommt, was man hineinsteckt. Poincaré gilt als Hauptvertreter des sogenannten Konventionalismus, der – wie der Name sagt – grundlegende Teile des Wissens für Konventionen hält, darunter Aussagen über Raum und Zeit. Derartige Vereinbarungen seien durchaus nötig, aber im Detail nicht festgelegt. In Bezug auf die Raumstruktur hat der Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894) den Konventionalismus widerlegt: In einem Gedankenexperiment zeigte er, dass ein Reisender im hyperbolischen Raum durchaus anderes erlebt als ein solcher im euklidischen Raum.

Schließlich ist noch der sogenannte Empiriokritizismus von Ernst Mach (1838–1916) zu erwähnen, der durch die dagegen gerichtete Streitschrift »Materialismus und Empiriokritizismus« von Lenin erst richtig bekannt – und widerlegt – wurde. Dem Empiriokritizismus zufolge sind Raum und Zeit, wie auch weitere Grundbegriffe, nichts weiter als Schemata zum Ordnen von Empfindungen im Sinne einer »Denkökonomie«. »Ökonomisch« meint hierbei möglichst einfach arrangiert.

Neustart mit der Relativitätstheorie

Die Naturphilosophie von Raum und Zeit wurde zu einem »Neustart« genötigt durch die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) Albert Einsteins (1879–1955). Raum und Zeit der Physik verloren ihre jeweilige Einmaligkeit und Selbständigkeit; sie gehen in etwas Größerem auf – in der vierdimensionalen Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit M. Nachträglich kann man dreidimensionale relative Räume und eindimensionale relative Zeiten als geeignete Schnitte durch M wiederfinden. Die jeweilige physikalische Situation bestimmt die Schnitte. M trägt eine gewisse Geometrie, die mit dem Fachwort Riemann-Lorentz-Geometrie bezeichnet wird. Einstein identifiziert diese Geometrie mit einem physikalischen Feld – dem Gravitationsfeld. Aus Physik wird somit Geometrie, aber nicht konsequent: Gravitation (= Geometrie) wird der übrigen Materie gegenübergestellt. So revolutionär die ART herüberkam, so erfolgreich war sie dann. Eine empirische Bestätigung reihte sich an die andere, durch Messungen vom Labormaßstab bis zu den Größenskalen des Kosmos.

Angeborene Raumvorstellungen

Ein Nachtrag ist noch fällig: Tatsächlich gibt es einen Apriorismus in Bezug auf Raum und Zeit; Kant wird auf diese Weise teilweise rehabilitiert. Die Verhaltensforschung fand heraus, dass Affen und anderen höheren Tieren gewisse zutreffende Vorstellungen über Raum und Zeit angeboren sind. Die Psychologie hat es in Bezug auf den Menschen schon länger geahnt oder gewusst. Der Grund ist klar: die biologische Evolution. Wissen über die Welt mitzubringen, in die man hineingeboren wird, ist evolutionär vorteilhaft. Drastisch – und negativ – ausgedrückt: Der junge Affe, der ein unzureichendes räumliches Vorstellungsvermögen hatte, sprang zu kurz zum nächsten Baum; er gehört nicht zu unseren Vorfahren. Evolutionäre Erkenntnistheorie heißt dasjenige Forschungsgebiet, das sich mit angeborenen Vorstellungen bei Mensch und Tier im Zuge der Evolution befasst.

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