Zu futuristisch, um wahr zu sein
Freitags Wochentipp: »Operation Naked«
Man gewöhnt sich dieser Tage ja an vieles, was eigentlich alles andere als gewöhnlich ist. Die raumgreifende Flüchtlingsdebatte? Nimmt nun mindestens zwei Drittel jeder »Tagesschau« in Beschlag, Abend für Abend für Abend! 28 Tote beim jüngsten Anschlag in Ankara? Da reichen den »heute«-Nachrichten hingegen kaum zwei Minuten zum Einstieg! Sondersendungen, Brennpunkte, Hysterie? Dafür müsste schon was an geografisch und atmosphärisch benachbarten Orten passieren, Paris zum Beispiel! Dass die gar nicht so diabolische Popband Eagles of Death Metal dort vorige Woche ihr zerschossenes Konzert vom 13. November beendet hat, war demnach zwar keine Spitzenmeldung, aber immerhin der Frontberichterstattung auf sämtlichen Kanälen wert. Wir leben in einer bizarren Zeit. Fachleute sprechen bereits von einer Epochenwende. Sie verändert alles. Auch die Medien. Besonders die.
Um verbreitet zu werden, bedürfen Informationen jeder Art ja längst keines ordnenden »Mittelpunktes« mehr, wie »Medium« im Lateinischen heißt. Jede Botschaft, jeder Bericht jedes noch so dubiose Gerücht wird zusehends ungefiltert aus allen Rohren ins Hirn geschossen. Wer diesen Strom der Mitteilungen kanalisiert, am besten noch auf Papier, gilt da im besten Fall schnell mal als überflüssig, im schlechtesten als verlogen. Alles muss raus! Das findet auch Michelle Spark.
Die Jungunternehmerin in Berliner Hipster-Optik hat eine Brille entworfen, die unablässig ihr Umfeld scannt und mit dem digitalen Wissen darüber abgleicht, um eins der vermeintlichen Übel unserer Zeit auszumerzen: den Makel. Wenn alle Menschen allzeit alles voneinander wissen, wirbt Sparks Start-up »Real-O-Rama«, wenn es keine Geheimnisse mehr gibt, wenn man Makellosigkeit also nicht mehr vortäuschen kann, »verliert der Makel an Bedeutung«. Eine aberwitzige Vision, verbreitet auf allen Bühnen der Medienrepublik. Claus Kleber berichtet, Markus Lanz diskutiert, das »Morgenmagazin« lädt zum Praxistext - und gerät vor Dunja Hayalis Augen außer Kontrolle, als persönliche Daten eines Lehrers beim Betreten eines Schwulenclubs im ZDF-Bild erscheinen und seine Existenz vernichten, was nur den Auftakt einer Eskalationsspirale bis hin zum offenen Terror bildet.
Wirkt zu futuristisch, um wahr zu sein? Ist es auch! Dank der prominenten Protagonisten aus 15 real existierenden Fernsehformaten mag die Story zwar authentisch wirken, ist aber eine »Mockumentary« namens »Operation Naked« von Mario Sixtus. Geschickt als Dokumentation getarnt, malt die Fiktion des Filmemachers, die an diesem Montag im ZDF zu sehen ist, durchaus glaubhaft den Teufel vom gläsernen Menschen an die Wand. Gut, das Tempo der Eskalation ist ein wenig zu hoch. Und den professionellen Schauspielern der angeblich echten Figuren hätte mal jemand sagen dürfen, dass gewöhnliche Leute vor der Kamera nicht proklamieren wie Theatermimen, sondern haspeln wie du und ich. Trotzdem ist die Dystopie sehenswert. Und alles andere als gewöhnlich.
ZDF, 22.2., 23.55 Uhr
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