BBC-Legende Melvyn Bragg: Arbeit an einer gewitzteren Welt

Melvyn Bragg zeigt in seiner Wissenschaftssendung »In Our Time«, wie einfach es ist, großartiges Radio zu machen

  • Klaus Ungerer
  • Lesedauer: 6 Min.
Einst Working Class Boy, heute Baron: Melvyn Bragg, dessen Neugier niemals endet
Einst Working Class Boy, heute Baron: Melvyn Bragg, dessen Neugier niemals endet

Ich habe noch nie Fanpost geschrieben. Aber an Melvyn Bragg.

Melvyn Bragg kennt hier natürlich niemand. In einem weltkulturell eher abseitigen Land wie diesem hier wächst man ja auf wie in einer Sekte. Geistige Größen, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat, sind Juli Zeh, Jakob Augstein oder Richard Precht; wenn man sich interessant machen will, gibt man sich als Kafka-Kenner oder tut so, als habe man den »Zauberberg« gelesen, und man weiß, wann man »Luhmann«, »Adorno« oder »Maybrit Illner« ins Gespräch einzuflechten hat. Das Ganze läuft unter dem Label »Land der Dichter und Denker«, und das Räsonnement dahinter ist wohl: Von Dichtern und Denkern aus anderen Ländern haben wir selten mal was gehört, die können ja also so dolle nicht sein.

Welche Dichter, welche Denker andere Länder geprägt haben und mehr noch: welcher Witz, welcher Esprit, welche Bildung von Herz und Verstand andernorts möglich sind, darüber wird selten nachzudenken gewagt; mitreißende Denker wie etwa die Religionskritiker Richard Dawkins oder Christopher Hitchens finden aus falsch verstandener Toleranz nicht statt, über einflussreiche konservative US-Youtuber wie Jordan Peterson, Matt Walsh oder Ben Shapiro wird sich nicht im Geringsten aufgeregt, schlicht, weil keiner sie zur Kenntnis nimmt. Denn die Welt da draußen, sie findet nach Deutschland selten herein.

Ich erlaube mir daher den Hinweis: In Großbritannien haben sie einen alten Mann, der seit Äonen eine ganz wundervolle Radiosendung macht, jede Woche eine neue Folge. Das ist Melvyn Bragg. Melvyn Bragg war 1998 schon eine Legende, als er seine Fernsehsendung verlor. Da war er gerade in den Adelsstand erhoben worden und gehörte nun im House of Lords der Labour-Fraktion an: Wegen vermeintlicher Interessensüberschneidungen kickten sie ihn raus, und als kleine Entschädigung bot ihm die BBC einen staubigen Sendeplatz im Donnerstagsradio an, einen, den keiner haben wollte.

Drei Gäste mit Ahnung, Charme, Esprit. Und Melvyn, der die Peitsche schwingt: »In Our Time«, auf Sendung seit 1998. Tolles Radio kann so einfach sein.

Melvyn rechnete nicht damit, dass der Spaß im toten Winkel der Wahrnehmung länger als ein paar Monate dauern würde, daher kam nun eine Leichtigkeit über ihn. Er beschloss, »das zu tun, was ich schon immer tun wollte«, ein Bildungsprogramm mit dem schlichtesten denkbaren Konzept: drei Experten im Studio, alles Akademiker und Akademikerinnen, ein Gespräch. In jeder Episode würde man ein Thema aus Kultur, Historie, Wissenschaft oder Philosophie besprechen, quer durch den Garten, ob es Shakespeares Sonette seien oder Echolot-Ortung bei Fledermäusen, ob es nun die Schlacht im Teutoburger Wald sei oder die Beowulf-Sage, ob gefiederte Dinosaurier ausdiskutiert würden, Dunkle Materie oder das Schicksal der Tempelritter: Jedes Thema würde so intensiv wie möglich durchgearbeitet, dem Gastgeber und allen seinen Zuhörern zur Freude und Veredlung.

Eine halbe Stunde lang würde Bragg mit seinen Gästen schnacken, fertig, aus. Kein Tüdelüt, keine Jingles, keine Einspieler, keine O-Töne, keine Musik, kein gar nichts. Nur ein gebildetes Gespräch, zusammengehalten und forciert von Baron Bragg, das war das Konzept. Man male sich mal aus, wie viele Debatten eine solche Idee auslösen könnte, etwa in einer öffentlich-rechtlichen deutschen Sendeanstalt: Hier noch ein Wasserkopf, da noch ein Bedenkenträger (»Nicht zeitgemäß!«), rechts und links ausgedachte Erfordernisse und die ebenso ausgedachten Hörer, welche man auf keinen Fall überfordern dürfe.

Melvyn legte einfach los, wie er immer einfach loslegt: Mit »Hallo« führt er seit 1998 in die Sendung ein, stellt dann in ein paar Sätzen das Thema vor (wobei er direkt eine gewisse Gehetztheit zur Schau stellt), bandwurmt sich durch die Namen und Meriten seiner Gäste – dabei mit großer Zuverlässigkeit immer auch Frauen am Start –, dann geht es hinein in das bunte Karussell von Forschung und Erkenntnis: Dem Hörer aus den kargen deutschen Landen geht da das Herz auf, denn so etwas hat er ja noch nie gehört. Akademiker, die jeden Satz zu setzen wissen. Deren ernstes Interesse nie ohne spürbare Freude daherkommt. Die Charme, Witz, Esprit haben. Aufgeweckte, geistvolle Menschen, die zu allem Überfluss auch noch höflich aufeinander eingehen. Verblüffend, was es alles gibt in der Welt da draußen! Zu Melvyn Bragg, ihrem strengen Meister, kommen sie immer wieder gern, sie genießen ihre Bühne ebenso wie sein aufrichtiges Interesse, das sich als Ungeduld äußern, aber eben auch in einer echten Begeisterung entladen kann.

Den Moment der Freiheit, die Melvyn Bragg im Jahr 1998 hatte, nutzte er gut. Binnen kurzer Zeit konnte er den Zuhörerschnitt auf dem vergessenen Donnerstags-Sendeplatz verdreifachen. Über 1000 Gesprächsrunden hat der mittlerweile 85-Jährige nun schon moderiert, mittlerweile je 42 Minuten lang. Plus Bonusmaterial für Podcast-Hörer: Seit 2011 ist Braggs Wunderkammer des Wissens komplett online begehbar, alle Episoden hat die BBC zur Verfügung gestellt (bbc.co.uk/programmes/b006qykl). Viele davon kann man wieder und wieder hören, so wie in der Kindheit eine gute Hörspielkassette, etwa die Folge über den versuchten Überfall der spanischen Armada auf England 1588 oder jene über den historischen Lawrence von Arabien oder, für Freunde der Paläontologie, »The Fish-Tetrapod-Transition«, die Landeroberung der Fische also, oder man lässt sich von Melvyns Sonnenfinsternis-Experten anstecken, wenn sie voller Begeisterung ihre Sonnenfinsternisse schildern.

So beglückt und bildet Melvyn Bragg die Menschen im Vereinigten Königreich und auf der ganzen englischsprachigen Welt, und manchem einsamen deutschen Hörer verhilft er zu einer Vision vom Leben, so wie es vielleicht die amerikanischen Musiksender in den 50er Jahren taten.

Eine Sendung wie »In Our Time« wäre in Deutschland kaum aufzuziehen, fehlt doch hiesigen Akademikern oft die Fröhlichkeit und Gewandtheit im Denken. Und niemand hat die brüske Direktheit, mit der der Nordengländer Bragg die Peitsche schwingt über seinen Gästen: Fachkundige Leute sind da ja mit Vorsicht zu genießen, denn meist wissen sie zu viel. Gern wollen sie alles erzählen. Wollen hier noch einen halbdunklen Gedankengang ausleuchten, dort noch einen Fußnotenabdruck hinterlassen. Melvyn aber hat einen Ablaufplan, und wenn da nur zwei Minuten für die allgemeine politische Lage in der Spätphase der römischen Republik vorgesehen sind, dann wird Melvyn nach zwei Minuten auch wirklich ein wenig unbequem.

Wie er seine Schafe immer wieder auf den rechten Weg schubst, wie er sie, den Blick auf die Uhr, antreibt – Sorry, we have to move on –, das würde sich in Deutschland niemand trauen, da man akademischen Halbgöttern mit unterwürfigem Respekt zu begegnen hat. Melvyn Bragg kommt mit dem Selbstbewusstsein des Working Class Boy, dessen wacher Geist ihn bis ins House of Lords getragen und ihn zum Träger diverser Ehrendoktorwürden gemacht hat. Ihm kann keiner was vormachen, und seine punktuelle Grumpeligkeit ist keine Attitüde, sondern speist sich aus der Begeisterung für sein Thema und sein Format. Die Intensität, mit der er seinen Gästen folgt, kann jederzeit in einen trockenen Witz und ein gemeinsames Lachen ausbrechen, und welche intrinsische Freude Bragg an seiner Sendung hat, kommt immer wieder am Ende gelungener Episoden zum Vorschein, wenn er sich von Herzen bei seinen Gästen bedankt: I think, this was terrific – Ich denke, das war fantastisch.

Wie sehr dankt man es ihm als Hörer! Man dankt ihm seinen Mut und seinen offenen Blick, den Blick des Entdeckers, geschult in einer Seefahrernation, die undenkbar ist ohne eine Neugier auf die Welt. Auch gibt es bei Melvyn Bragg manche Dichterin und manchen Denker zu entdecken, von denen wir hier unten noch nie etwas gehört haben.

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