Carl Hegemann: Ein undisziplinierter Denker

Der Dramaturg Carl Hegemann ist tot

Der Chefideologe in vermeintlich postideologischen Zeiten: Carl Hegemann an der Berliner Volksbühne
Der Chefideologe in vermeintlich postideologischen Zeiten: Carl Hegemann an der Berliner Volksbühne

Deutschland ist bekanntlich ein ordentliches Land. Also geht es auch im Theater, zumindest im Zuschauersaal, diszipliniert zu. Wenn man aber in einer Premiere saß und aus irgendeiner Ecke hörte man jemanden unaufhörlich reden, manchmal die Stimme sanft zurücknehmend, dann doch wieder sprudelnd assoziieren, Bilder erklären, Fremdtexte erkennen, Referenzen offenlegen, dann gingen diese produktiven Störmomente höchstwahrscheinlich von Carl Hegemann aus.

Er konnte nicht anders; war die Denkmaschine einmal angeworfen, gab es kein Zurück mehr. Er war ein undisziplinierter Denker. Man verzieh ihm das gern, weil nicht selten seine Ausführungen interessanter waren als das, was sich auf der Bühne abspielte.

1949 in Paderborn geboren, studierte er Philosophie, Literatur- und Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main, in einer Zeit, als hier ein offenes, kritisches Denken kultiviert wurde, und promovierte mit einer Arbeit über Johann Gottlieb Fichte und Karl Marx. Vom Hochschulbetrieb, wo er sich für ein paar Jahre als Dozent verdingte, führte ihn sein Weg ans Theater.

Müßig wäre es, die verschiedenen Bühnen aufzuzählen, an denen er wirkte. Ein Theater kann man aber nicht unterschlagen: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. Überschwänglich und schnell, wie er war, kam und ging er zwischen 1992 und 2017 immer wieder. Zeitweise war er hier Chefdramaturg. Es waren die prägenden Jahre unter dem Intendanten Frank Castorf, die ihren Platz in der Theatergeschichte haben.

Carl Hegemann (1949–2025)
Carl Hegemann (1949–2025)

Als intellektueller Sparring-Partner von ebenjenem Regisseur Castorf war er tätig, aber auch als Wegbegleiter von Christoph Schlingensief, nach dessen Tod als sein Chronist. Zuletzt begleitete er als Produktionsdramaturg die Inszenierungen von Jette Steckel. Nein, Hegemann machte es sich nicht bequem in seiner Denkerpose, sondern ließ sich auf Neues ein, ästhetisch, gedanklich.

In Gesprächen war er manchmal kaum zu bremsen, sprang von Politik zu Kunst und Philosophie, kommentierte das Zeitgeschehen, zeigte Querverbindungen und trumpfte bestimmt bald mit einer frechen, aber klugen und spontan entwickelten Idee auf. Dabei blieb er an seinen Gesprächspartnern, wie überhaupt an scheinbar allem, interessiert, forderte Reaktionen heraus und blieb stets gut gelaunt. Darin war er Brecht, den er schätzte, dem er aber seines Status als Klassiker wegen doch nicht voll vertrauen konnte, sicher nahe: Denken sollte Vergnügen sein.

Carl Hegemann wirkte im Theater auch deswegen wie ein Exot, weil sein einmal sehr ehrbarer Beruf, der des Dramaturgen, sich über die Jahrzehnte enorm gewandelt hatte. Unter den Projektmanagern und Fleißarbeitern, PR-Maschinen und Trendjägern der Gegenwart stach er als Enthusiast für die Kunst und ideenreicher, aber auch widersinniger, niemals opportunistischer Mitarbeiter hervor.

Mehr als nur einmal verwies Hegemann auf Ilja Ehrenburgs Bemerkung, wenn der Kommunismus erreicht sei und alle ökonomischen Probleme ausgeräumt seien, dann beginne die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Tragödie der Menschen: der Sterblichkeit. Am 9. Mai ist Carl Hegemann im Alter von 76 Jahren gestorben. Das Theater verliert mit ihm eine über Jahrzehnte prägende Persönlichkeit, die auf die schönste Weise Unruhe zu stiften wusste.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.