Schönheit des Schauders

Zum Tod des italienischen Schriftstellers Umberto Eco

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Streichholz vollzog sich die trübsinnigste Auferstehung: Aus Prometheus wurde Jedermann - denn Feuer zu entfachen, das ist längst nicht mehr göttliche Gabe, sondern routinierter Handgriff. Es sei denn, die Zündkraft geht wieder den Weg aufwärts. Kopfwärts. Hin zum literarischen Gedankenblitz. »Streichholzbriefe« nannte Umberto Eco seine kurzen, dichten Kolumnen, die ab 1985 jahrelang auf der letzten Seite des römischen Nachrichtenmagazins »L’Espresso« erschienen. Streichhölzer passen in die Schachtel, Ecos Texte flohen die Schublade - jenes Regal- und Regelfach also, darin die Kultur des landläufigen Zeitungskommentars dahinmault. Der meist schon im ersten Satz seine Langeweile gesteht, mit der er dann aufs eintrainierte und durchgelatschte politische Fazit zusteuert.

Die Streichholzbriefe des Satirikers, Philosophen und langjährigen Semiotik-Professors an der Universität Bologna berührten zahllose Themen - wem Schreiben Leben ist, dem schlagen noch aus jedem Regentropfen Funken. Sogar über die »im Licht des gesunden kritischen Menschenverstandes« schier unbegreifliche Popularität der deutschen Fernsehserie »Derrick« schrieb Eco - im Text der grandios guillotinierende Satz: »Im Film sehen die Schuldigen so unverschämt schuldig aus, dass sie gewöhnlich sogar von Harry erkannt werden.« Die Kolumne als Spiegel einer ästhetischen Wesensart: wenige Worte bemühen, aber niemals überkonzentriert sein; leicht in den schwierigsten Passagen bleiben; Eitelkeit gestehen, aber auf eine sehr freundliche Weise.

Eco war realitätsübersteigender Erzähler - und leidenschaftlich weltbezogener Gelehrter. Bewandert in aristotelischer Naturphilosophie und mittelalterlicher Kunstgeschichte. So vereinten sich in seinen Romanen Wissen und Dämonie, Girlande und Gewalt. Die Fiktion stets in spannungsgeladener Liaison mit dem Fakt; das Sachbuch bohrte sich mit Inbrunst ins Fabularium. Der Sohn eines Buchhalters, Kulturredakteur beim Fernsehen, Sachbuchlektor, Zeitschriftengründer, der sich noch spät als einen »jungen Schriftsteller« bezeichnete, weil er erst mit fünfzig zum Romancier wurde - er schrieb nicht einfach, er schmückte, er ließ uns in Opulenz baden, ein Komponist der Detailfülle, Literatur als Tanzfest: Barock’n’Roll. Er schrieb eine »Geschichte der Schönheit« und eine »Geschichte der Hässlichkeit« - da waltet ein Geist, der das Enzyklopädische wie einen letzten Schatz vermooster Zeiten durch die Moderne schmuggelt.

Man lese auch seine »Geschichte der legendären Länder und Städte«. Sagenumwobene Geografie dieser Erde als Ausgangspunkt für ein Erzählen darüber, wie Menschen immer wieder ihre Phantasien, Utopien und Illusionen gelebt haben. Vineta und Avalon, Ägypten und Jerusalem und Odysseus’ Seeroute - Aufbruch zu Träumen und Reisen in eine Welt, die Peter Sloterdijk »das Regime der Einbildungskraft« nannte. Als folge unsere abgehangene Vernunft dem Valerio aus Büchners »Leonce und Lena«, der ausrief: »Wir wollen Gelehrte werden!«, und als sei dies, die Häufung des Erforschten in unserem Hirn, tatsächlich noch immer denkbar als ein Weg in die - Unschuld. Und unseren Kopf durchzögen nun Längen- und Breitengrade für ein schönes kolumbisches Begehren, das uns weitet und weitet.

Dies Buch wie alle Bücher des Norditalieners aus Alessandria im Piermont, der sich selber einen »Meister der Vernebelung« nannte: Der Begriff »Geschichte« wird zum raffiniert geformten Doppel aus Erfassung und Erfindung (»Das Foucaultsche Pendel«, »Die Insel des vorherigen Tages«). Das Imaginäre als schönste Hinwendung zum Menschen: Er nimmt nur das gelehrig an, was mysteriös ist. Andererseits bleibt die Phantasie auch Motor der Manipulation: Im Roman »Der Friedhof von Prag« wird das erlogene Protokoll der »Weisen von Zion« zum irr-sinnigen Grundpapier antisemitischer Hetze.

Bart und Zigarettenspitze, das Auftreten souverän kalkuliert zwischen Distanz und Einladung - er hätte gut in die Bürgerporträts des späten Neorealismus gepasst, inszeniert von Francesco Rosi oder Vittorio de Sica. Galan und Genießer, Gebieter und doch Gemütsmensch. Und Intellektueller mit scharfem Blick auf die eigene Gilde. Der Intellektuelle, so heißt es ja reflexhaft, sei Gewissensforscher, beharrlicher Mahner. Eco mischte sich in diesem Sinne immerwährend ein, freilich verachtete er die Art, »in der sich Intellektuelle als Orakel spreizen«, und Gesellschaften, in denen Propheten notwendig seien, nannte er als »nicht vom Glück gesegnet«. Aber wenn schon Einmischung, dann im Sinne von Roland Barthes: »Ich lasse mich nicht als einen Intellektuellen bezeichnen, sondern nur beschimpfen.«

Nach Ecos Grundüberzeugung hatte der wahrhaft linke Intellektuelle vor allem die Gruppe, der er selber angehört, zu kritisieren, also nicht die Feinde, sondern die Freunde: »Es ist ein elender Zug: dieser Hang zur geschlossenen Formation, diese Manie der Partei, Erfolge herbeizulügen, diese Angst vorm Schmerz über das eigene Versagen. Man spricht von ausgewogener Geschichtsbetrachtung, meint aber nur, gefälligst von den Wahrheiten verschont zu bleiben, die länger weh tun könnten, als man das möchte.« Da kennt sich einer aus im linken Gelände aus Traumrodungen, Utopiewüsten und Klassenkampfruinen. »Es hat lange gedauert, ehe sich alle Schleier um Stalin verflüchtigten. Auch die Verklärung Lenins wird sich in Luft auflösen.« Kommunistennähe, Tragödiennähe. Wer die Aufsätze Ecos zur linken Bewegung liest, begreift einmal mehr die zerrende Pein: Die so ehrenwerte Idee des Protestes verliert offenbar dann Kraft und Vertrauen, wenn sie Praxis werden soll. Eine Dialektik, die zur generellen Geschichtssicht des Schriftstellers zurückführt: Es gibt eben Dinge und Zustände, die sind als Erlebnis interessant, andere nur als Vorstellung.

Natürlich: »Der Name der Rose«, der Paukenschlag 1980. Ein Mönch aus dem 14. Jahrhundert macht aus Eco einen Millionär. Der faszinierende Kapuzenkrimi. Pater William ist aus Baskerville, das erinnert nicht zufällig an den Grauensort des Conan Doyle. Genaueste Akzentsetzung von Scholastik und Antischolastik; Lust an präziser Kolorierung. Eine Bibliothek als Schreckensstätte: Die klerikale Dogmatik tötet Geist und Menschen. Und da ist Ecos tiefer Glaube an Anwehungen aus Frühzeiten: Der Sechzehnjähriger hatte sich beim Besuch in einem Benediktinerkloster bei Rom in die Bücherei verirrt. »Beim Blättern in einem alten Folianten muss ich so etwas wie einen Schauder empfunden haben. Mehr als dreißig Jahre später tauchte dieser Schauder aus meinem Unbewusstsein wieder auf.«

In den letzten Jahren geißelte Eco in zahlreichen Essays das ausgehöhlte Rollenspiel des politischen Handelns - und rundum die Ausweichfelder eines zunehmend zynischen privaten Bewusstseins. Das Medienspektakel sei für Politiker inzwischen die »letzte Form der Präsenz - es geht nicht mehr um schlagende Argumente, sondern nur um den Schlag, den man bei den Leuten hat«. Noch den größten Tragödien begegnen wir mit seichter Vermittlung. Erträglichmachung statt Lösung. Mit Gleichgesinnten gründete er 2002 die Gruppe »Freiheit und Gerechtigkeit« - eine intellektuelle Opposition gegen Berlusconi. »Wir haben ihn nicht verhindern können, aber selbst wenn er eines Tages über sich selbst stolpert: Er ist ein europäischer Speerspitzentyp, der sich ausbreiten wird.« Sich ausgebreitet hat.

Im Roman »Das Foucaultsche Pendel« - einem Tempelritter-Thriller, der durch viele Zeiten gespenstert - bläst ein Kind 1945 die Trompete für die Gefallenen des Partisanenkriegs. Der Ton, den der Junge minutenlang hält, bildet den »einzigen festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte«, jenen Punkt, »den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem schuf«. Trifft das nicht tief ins Herz? Kann die Welt wahrhaftiger weitergegeben werden als in solchem Erzählen? Und bekräftigt das nicht die unbedingte Bejahung eines Lebens auf dieser entsetzlichen, höllischen, großartigen Erde?!

Nun ist Umberto Eco, der »innigst« Italo Calvino und James Joyce verehrte, der verheiratet mit einer Deutschen und Vater zweier Kinder war, im Alter von 84 Jahren gestorben.

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