Nicht in Norwegen

Martin Leidenfrost besuchte die vielleicht teuerste Jugendfürsorge der Welt in Oslo

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Als ich dieser Tage durch Oslo spazierte, kriegte ich im Kopf was nicht zusammen - die Panik osteuropäischer Einwanderer vor dem norwegischen Jugendamt und die Aussage desselben Amts, Norwegen sei »eines der freiesten Länder der Welt«. Ich stieg wie so viele Passanten zum Königsschloss hinauf. Davor eine vereiste und verwaiste Rodelschanze aus Kunstschnee, daneben ein hübsches weißes Holzhaus, abseits im Halbdunkel ein Paradesoldat. Als ich zwei Schritte an das heimelig leuchtende Holzhaus herantrat, röhrte der Soldat plötzlich einen Laut und richtete schräg himmelwärts das Gewehr auf mich. Norwegische Freiheit? Da das orange Licht abgeschafft ist, leuchten Oslos Fußgängerampeln zwei Mal rot. Es sei aber gestattet, beruhigte man mich, bei Rot drüberzugehen.

»Barnevernet« ist die vielleicht teuerste Jugendfürsorge der Welt. Zusammengerechnet mehr als 13 000 Mitarbeiter sorgen sich um 53 000 Kinder. Einspruch einlegenden Eltern bezahlt der Staat den Anwalt ihrer Wahl. Kindeswegnahmen bei Osteuropäerinnen sind statistisch betrachtet selten, während Mütter aus Irak, Afghanistan, Somalia und Thailand jeweils 40 Kinder verloren.

In einer fensterlosen Kammer erwarteten mich der eigens angeheuerte Dolmetscher und eine ältere nordische Dame mit kurzen blonden Locken, »Senior Advisor«, »gleich nach dem Chef«. Ich fragte: »Warum ist Norwegen so streng?« Sie: »Was heißt streng?« Ich zählte umstrittene Barnevernet-Entscheidungen auf: indische Kinder, die besser nicht mit den Händen gegessen hätten; eine Tschechin, der man die Söhne wegen unbewiesener Missbrauchsvorwürfe entzog; die gehörlose Frau eines Slowaken, die ihr Baby wegen mangelnden Augenkontakts verlor. Da die Jugendämter der 428 Kommunen autonom entscheiden und nur dem Provinzgouverneur unterstehen, durfte die Vizechefin Einzelfälle nicht kommentieren. Die Zentrale nimmt bloß zwei Etagen in einem kleinen Büroblock ein, »wir legen nur die fachlichen Empfehlungen fest«. Wegen dieser Empfehlungen war ich da.

Ich war vorher bei rumänischen Pfingstlern gewesen, in Panik wegen Familie Bodnariu, deren fünf Kinder offenbar wegen Schlagens und »religiöser Indoktrinierung« weggenommen worden waren. Persönlich befremden mich Züchtigungen, zwecks Erhalt einer klaren Antwort provozierte ich aber ein wenig. Ich zitierte Absatz 2223 aus dem katholischen Katechismus: »Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit.« Was, wenn Katholiken ihre Kinder auf diese von Papst Franziskus geduldete Weise erziehen? Die Beamtin sagte nur: »Nein.« Der deutsche Dolmetscher lachte, als ich nachfragte: »Nicht einmal ein bisschen Arschversohlen?« Sie: »Nein, Gewalt ist Gewalt. Das ist Strafgesetz. Wenn Sie Ihre Kinder schlagen wollen, dann können Sie das nicht in Norwegen machen.« Sie nannte die Leitlinien »forschungsbasiert, Hirnstudien beweisen das, auch Zeuge von Züchtigungen zu werden ist schädlich.« Die biologische Familie ließ sie als »Ausgangspunkt« gelten. »Ausgangspunkt oder Ideal?« fragte ich. Sie konnte keinen Unterschied sehen.

Ich erzählte ihr, dass ein rumänischer Pfingstler im säkularen Norwegen nun kein Tischgebet mehr zu sprechen wagte. Sie verdrehte die Augen - »dass ich auf solche Fragen antworten muss!« Ihr Sohn studiere in der Provinz, müsse dort vier Mal am Tag beten, sie habe kein Problem damit. Sie hatte in Frankreich gelebt, wollte das norwegische System nicht loben, sagte dann aber doch mit Stolz: »In Paris sitzen bettelnde Eltern mit Kindern auf der Straße. Das geht in Norwegen nicht.« Sie stimmte mir zu, dass Osteuropäer dem Staat uneingeschränkt misstrauen, während Norweger »uneingeschränktes Vertrauen in das staatliche System haben. Aber sollen wir diese Kinder nicht schützen, weil es dem Ruf Norwegens schadet?«

Hinterher ging ich noch ein Stück mit dem Dolmetscher. »Barnevernet war auch bei mir«, überraschte er mich. Sein 13-jähriger Bengel hatte einst besoffen Passanten beschimpft und bekam von Barnevernet einen Buddy für einige Wochenenden zugewiesen. »Das war ein 21-jähriger Student, der konnte viel besser mit dem Jungen reden als ich. Das hat ihm gut getan.« Einige ältere Mütter, mit denen ich in Norwegen sprach, Norwegerinnen und eine Polin, lobten das Jugendamt, »früher hätten die öfter eingreifen sollen«. Ich spazierte noch länger durch Oslo. Kinder kamen aus der Schule gelaufen, blond und beschwingt und frei von Angst.

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