Der preußische Ikarus

Vor dreißig Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Am 16. November 1976 wird es endgültig Winter in der DDR. Begonnen hat er bereits mit dem 11. ZK-Plenum der SED im Dezember 1965. Da wird nicht nur fast ein kompletter Jahrgang der DEFA-Produktion verboten, auch Wolf Biermann bekommt Auftrittsverbot. Der Staat zeigt kritischen Künstlern die Instrumente. Stefan Heym nennt sein Buch darüber »Der Winter unseres Missvergnügens«. Am 16. November 1976 beschließt das Politbüro der SED unter Vorsitz Erich Honeckers die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR. Viele kannten ihn nicht. Elf Jahre lang hat kaum jemand in der DDR Biermann singen hören, es sei denn in dessen Wohnung in der Berliner Chausseestraße 131 oder in Kantinen Berliner Theater. Bei dem Konzert in Köln, am 13. November, auf Einladung der IG Metall, sahen ihn viele zum ersten Mal im Fernsehen. Und das Politbüro fühlte sich erwartungsgemäß von Biermanns spöttischen Liedern und Zwischentexten provoziert. Kein Wunder, denn Biermanns Selbstverständnis ist dem eines François Villon oder Heinrich Heine vergleichbar. Keine Gefolgschaftsrituale, sondern unbequem sein, vor allem der selbst gewollten Sache gegenüber. Seine »Einmischung in die eigenen Angelegenheiten« gipfelte im Satz: »Die DDR braucht Rosas rote Demokratie.« Und so gab es in Köln eine grandiose Beschimpfung der Vorgartenzwerg-Mentalität der DDR-Oberen: »Die Untertanenfabrik geht ein ... kein Spitzel findet Arbeit mehr, das gibt ein Arbeitslosenheer.« Biermann zeigt Flagge - seine eigene: »Die deutsche Einheit, wir dulden nicht, dass nur das schwarze Pack davon spricht - die Einheit, die wir meinen ... Freiheit von der Freiheitsdemagogie, nehmt euch die Freiheit, sonst kommt sie nie.« Ein aufregendes, ein aufwühlendes Konzert, auch heute noch beim Wiederhören. Was Biermann 1976 vortrug, das ist im Grunde das Sozialismus-Konzept, um dessen Glaubwürdigkeit die PDS sich heute so angestrengt bemüht. Manche meinten, ihn dafür einen Provokateur nennen zu müssen. Aber Biermann kritisierte die DDR als Kommunist, und gerade das hielten die herrschenden Genossen nicht aus, die ständige Einmischung eines Einzelnen, dieses: »Den roten Stein der Weisen gibt's nicht, auch Du Genosse hast ihn nicht gefunden.« Seine Kritik traf den Nerv der Zeit. In der 1976 geschriebenen »Ballade vom preußischen Ikarus« heißt es: »Und wenn du wegwillst, mußt du gehen / Ich hab schon viele abhaun sehn / aus unserem halben Land / Ich halt mich fest hier, bis ich kalt / Dieser verhaßte Vogel krallt / und zerrt mich übern Rand.« Stefan Heym hat das Ausbürgern empört eine Nazi-Praxis genannt. Plötzlich stand die Drohung der Macht im Raum: Wer eine andere Art Sozialismus will als den, den wir euch zugestehen, der fliegt raus. Immerhin: besser, als dafür nach Bautzen zu kommen, wie noch in den 50er Jahren. Offenkundig wird das Schisma im Lande: Die einen sehen die Gefahr einer »Aufweichung« aus dem Westen, die Macht im Staate müsse gegen Störer gesichert werden. Das ist eine Logik, die auch die Panzer gegen den Prager Frühling rollen ließ. Die anderen aber fragen sich: Warum soll sich meine Vorstellung von Sozialismus dem reduzierten Vorstellungsvermögen des Politbüros unterordnen, wer bestimmt denn, was Sozialismus ist, wenn nicht die Sozialisten selber? Stefan Heym gehörte zu denen, die wissen, hier schwimmt gerade der letzte Strohhalm für einen demokratischen Sozialismus auf deutschem Boden davon. Hier glaubt die herrschende Partei, eine Reihe von Künstlern, denen sie ohnehin misstraut, auf ihre ideologische Linie bringen zu können - indem sie ein Exempel statuiert. Aber die haben keine Angst mehr - wie noch nach dem 11. ZK-Plenum -, sie lassen sich nicht mehr einschüchtern. Bereits 1965 gab es einen Prolog zum Protest von 1976. Vor der Kongresshalle am Alexanderplatz wird Biermann von der Staatsicherheit verhaftet, als er zu einem der von Josh Sellhorn initiierten Jazz-Lyrik-Prosa-Abende gehen will. Als das im Saal bekannt wird, weigern sich Sellhorn, Manfred Krug, Eberhard Esche und die anderen spontan aufzutreten. Tatsächlich kam nach einer Dreiviertelstunde ein Offizier und übermittelte, Biermann sei wieder auf freiem Fuß. Wenige Tage später wurde Sellhorn beim Verlag Volk und Welt entlassen. Am 17. November gibt es eine Erklärung von Künstlern, die gegen die Ausbürgerung Biermanns protestieren. »Protest« - ein Wort, das bis dahin in der DDR tabu war. Darin heißt es: »Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt.« Erstunterzeichner sind Sarah Kirsch, Christa und Gerhard Wolf, Volker Braun, Fritz Cremer (der seine Unterschrift zurückzieht), Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller und Rolf Schneider. Man beschließt, die Erklärung erst ADN und Neues Deutschland zu übergeben und dann - nach einer Sperrfrist - westlichen Agenturen. Hermlin übernimmt es, den Text zum ND zu bringen und scheitert bereits am Pförtner, sagt Krug. Heym fährt zu Reuters. Keiner der Unterzeichner versteht sich als Feind des Sozialismus, man will den Staat vor einem folgenreichen Fehler bewahren. Es gibt zahlreiche Dokumentationen, anhand derer man den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren kann. Am bekanntesten ist Manfred Krugs »Abgehauen«. Hier findet man das Protokoll seines (heimlichen) Tonbandmitschnitts des Treffens der Protestierer mit Politbüromitglied Werner Lamberz. Dieser sagt in die Runde hinein, viele Genossen seien empört über die Künstler. Und er fährt fort: »Sehr erregt. Und, um es offen zu sagen, das Politbüro hat bis jetzt gebremst.« Krug reagiert als erster: »Hoffentlich sind es nicht dieselben, die so erregt waren bei der Aufführung des Films "Spur der Steine" in den Kinos, Werner, das wäre schade. Das klingt ein bißchen wie eine Drohung. Ich höre das schon wieder heraus. Das klingt so nach Steine schmeißen ...« Im ND kommentiert »Dr. K.«, der stellvertretende Chefredakteur Kertzscher, die »Maßnahme der zuständigen Behörden«. Kertzscher war 1937 in die NSDAP eingetreten und seit 1939 Wehrmachtsangehöriger. 1941 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und gründete das Nationalkomitee Freies Deutschland mit. »Dr. K.« meint, Biermann verschwinde »in der dunklen Masse antikommunistischer Krakeeler« und postuliert: »Zur Staatsbürgerschaft gehört eine Treuepflicht gegenüber dem Staat.« Biermann habe die DDR-Staatsbürgerschaft, aus Hamburg kommend, einst erhalten und durch sein »feindliches Auftreten« jetzt wieder verloren: »Die Arbeiterbewegung hat es immer wieder mit Leuten zu tun gehabt, die innen ganz schwarz waren, sich aber die rote Mütze aufgesetzt haben. Für die Betreffenden ging das meist nicht lange gut, den Sozialismus hat es nicht aufgehalten.« Sich das von einem Ex-Nazi sagen lassen zu müssen, wo der eigene Vater in Auschwitz ermordet wurde, ist perfide. Tagelang druckt das ND nun Ergebenheitsadressen an die unfehlbare Parteiführung - auch von Anna Seghers, Ernst Busch, Paul Dessau, Ludwig Renn und Fritz Cremer. Hermann Kant schafft es mit einem sophistischen Meisterstück, auf der Seite der Panegyriker quasi seinen Privatprotest vorzutragen: »Ich will nicht verhehlen, dies rasch zu sagen, daß ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich brauchte man nicht vor ihm zu schützen ...« Tatsächlich war Biermanns Kölner Konzert nichts weniger als eine - natürlich trotzig-provokante - Liebeserklärung an die DDR, ein Land, mit dem er seit langem »zerfreundet« war. Dass Biermann überhaupt zum Konzert ausreisen durfte, legt den Verdacht nahe, dass seine Ausbürgerung längst beschlossene Sache war. Biermann: »Ich hätte da in Köln auch den ganzen Abend "Hänschen klein, ging allein" singen können, sie hätten mich trotzdem nicht reingelassen.« 1976 ereignet sich nicht weniger als die intellektuelle Kapitulation der politischen Macht. Was folgt, ist ein quälender Stellungskrieg gegen jede Form von Kritik. Der schleichende Niedergang wird zu einem galoppierenden. Christa Wolf notiert, fortan werde es unmöglich sein, Bücher wie »Der geteilte Himmel« zu schreiben, die sich mit der gesellschaftlichen Gegenwart auseinandersetzen. Der große Rückzug in Nischen aller Art beginnt. Wer sich nicht verbiegen lassen will, reist aus - in den Westen oder in die Romantik. All das wird zur Vorgeschichte des 89er Herbstes, der nicht als sozialer Protest gegen die Mangelwirtschaft beginnt, sondern als intellektueller Protest, als Rückforderung der vorenthaltenen Freiheit. Heute wird Wolf Biermann 70 Jahre alt. Längst kein Kommunist mehr, ist er sich auch im Westen in einem treu geblieben: jeden auf eine andere Art zu enttäuschen.
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