Sie lacht, wahrscheinlich unter Schmerzen

Aus dem Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf

  • Lesedauer: 8 Min.

An Christa Wolf

18. 7. [72]

Liebe Christa,

falls es Dich irgendwann aus Prieros und der Weiberwirtschaft mit Tinka (hot pants! ich muß schon sagen!) nach Berlin verschlägt: ich bin ab morgen wieder in Buch, diesmal Station VI. Na … Geburtstag im Krankenhaus war schon immer mein Traum.

Leb wohl, seid beide herzlich gegrüßt von

Deiner Brigitte

An Brigitte Reimann

[Kleinmachnow,] d. 20. 7. 72

Liebe Brigitte,

morgen ist also Dein Geburtstag. Du wirst lachen: Ich habe eben im Literaturlexikon nachgeguckt, um festzustellen, daß Du ja noch nicht mal 40 wirst, und daß Du schon mit Deiner ersten Erzählung »erzähleri-sches Talent« bewiesen hast, was sicher für einen Schriftsteller ein gewisser Vorteil ist - besonders, wenn es sich hält, das Talent. Und wenn er sich hält - der Schriftsteller, in vielerlei Hinsicht. Beides glaub ich und wünsch ich Dir. Auch wenn im Augenblick die Stimmung bei Dir vielleicht nicht so zuversichtlich sein kann. Geburtstag im Krankenhaus - naja. Und bei dieser mörderischen Hitze, die einem den Schweiß aus den Poren treibt, wenn man bloß daran denkt, daß man sich demnächst bewegen müßte […]. - Ich werde Dich besuchen kommen, kann sein, schon nächste Woche. Dann bring ich Dir was zu lesen mit. - Rappelst Du Dich schon ein bißchen? Wollen wir uns nicht mal was Vernünftiges vornehmen? Zum Beispiel: Deinen nächsten Geburtstag mit einer Flasche kühlen Sektes gemeinsam zu begießen? Warum eigentlich immer diese Halbheiten? Verflucht nochmal!

Sei mir gegrüßt, auch von Gerd und Tinka Storchbein, die sich soeben zu einem Ostsee-Zeltlager rüstet.

Deine Christa

Christa Wolf im Tagebuch

2. 9. 72

Brigitte R., sterbend, in ihrem Bett mit Perücke und falschem Busen, 5 Karo rauchend, die ich ihr anzünde, eine Scheibe Ananas, die ich ihr füttere. Das Gesicht geschrumpft (wie der ganze Körper), bläulich, die Schwester hat sie wecken müssen, sie steht unter Betäubungsmitteln. Sie sehnt sich nach Kommunikation, hat aber Angst vor dem Aufwachen wegen der Schmerzen im Nacken und in den Armen. Sie erinnert sich an vieles nicht, auch wo sie scheinbar reagiert hat: Besuche, z. B. den ihres Bruders aus Hamburg. Erzählt aber von dem Haus, das er sich gebaut hat, sogar die Preise. Und daß es Zimmertreppen hat, die sie so schön findet. Sie lallt anfangs etwas, das gibt sich dann, weil die Wirkung der letzten Spritze sicher nachläßt. Was natürlich bedeutet, daß die Schmerzen zunehmen müssen. Ich bleibe trotzdem fast drei Stunden, weil ich denke, sie will es. Sie spricht ziemlich viel, erinnert sich an Einzelheiten aus Briefen […]. Man müßte so vieles schreiben, sagt sie; angreifend, damit sich was ändert. - Ihr Buch sei ihr fragwürdig geworden, sagt sie, es fehle noch die Überarbeitung des vorletzten Kapitels und ein kurzes, trauriges Kapitel von 15 Seiten an den Schluß. Inwiefern traurig? Na, weil mein Mädchen da ihren Liebsten verloren hat und nun angeschlagen, mit Wunden bedeckt, in ihre Stadt zurückgeht.

Über Tagebuchschreiben. Warum sie nicht davon losgekommen sei. Vielleicht ein Ersatz für die Beichte, an die sie in ihrer katholischen Kindheit gewöhnt war. Leider habe sie, als sie Pitschmann kennenlernte u. einen neuen Anfang machen wollte, ihre Tagebücher von vorher in einer Art von Autodafé verbrannt. […]

Über mich, meine Schreiberei, Gerd (den sie nur unscharf sieht), Tinka, unsere Familie geht es auch. Ich mache Sprüche, erzähle ihr Familiengeschichten, sie lacht, grimassenhaft, wahrscheinlich unter Schmerzen.

Sie sagt im gleichen Atemzug, daß sie im Oktober doch wohl entlassen wird (das Blutbild, sage der Stationsarzt immer, sei »hervorragend«) und: daß es seit ihrer Einlieferung bedeutend schlechter geworden sei. Spricht über Todesfälle (Aenne [Schlotterbeck]), daß auch unsere Generation schon abbröckle, fragt, woran Alex Wedding gestorben sei, erinnert sich an deren Annonce zu Weiskopfs Tod: »Mein wundervoller Lebensgefährte …«

Noch zu Tagebuch: daß man doch auch mit einem Seitenblick »auf andere« schreibe, was man daran merke, daß man sich sprachlich Mühe gibt. Daß sie es auch brauche, um die Geschichten wieder loszuwerden, die andere ihr anvertraut hätten (»den Bock mit den Sünden der anderen beladen, in die Wüste geschickt«).

Ein Gespräch zwischen Eröffnung und Verstellung. Am liebsten möchte man sie nur sprechen und sich ausdrücken lassen, dann wieder zwingt man sich, sie in eigenen Angelegenheiten ins Vertrauen zu ziehen, was ihr ja Freude macht.

Später ist es ihr, wie ich von A. Auer höre, sehr schlecht gegangen. Es war zu viel, sie verträgt es nicht mehr.

Das Gesicht war am Morgen als erstes wieder da. […]

15. 9. 72

[…] Gestern bei Brigitte. Wie es ihr gehe? Sie weinte: Nicht gut, vor allem moralisch. Trotzdem hält sie sich, verglichen mit anderen, immer noch für einen »leichten Fall«: Woanders liegen sicher die mit Lungen- und Magenkrebs, um die sie sich mehr kümmern müssen. Die Schmerzen seien erträglicher, sie bekomme weniger Spritzen. Sie ließ sich von mir einen ganzen Windbeutel mit Sahne einfüttern. Auch mittags habe sie zum erstenmal wieder etwas wie Hunger gehabt. Dabei ist sie weiter gräßlich abgemagert. Sie könne nicht mal mehr Papier zerreißen. (»Und das mir, die ich immer so kräftig war!«)

Auf einmal kam Frau Mathes. Nach einer Weile ging ich mit ihr raus. Sie erzählte mir folgende schwer glaubliche Geschichte: Als sie am 1. Sept. zurückkam und Brigitte in diesem Zustand sah, schöpfte sie Verdacht, daß man ihr das Prednison entzogen habe. […] Sie ging zum Leiter der Station […]. Ja, Gummel habe das Prednison abgesetzt (ohne das Br. wegen der fehlenden Nebennieren ja auf keinen Fall leben kann). Er wolle sie »in Ruhe« sterben lassen. Dazu auch die hohen Morphiumdosen, die einen Gewöhnungseffekt hervorrufen mußten und zusammen mit dem Prednison-Entzug eine Angst-Psychose erzeugten, die gräßlich war: Von »Ruhe« konnte keine Rede sein. Fr. M. setzte, obwohl es riskant war, gegen den Chef aufzutreten, […] ihren Willen durch. Sie gaben Br. wieder Prednison, ihr Zustand besserte sich etwas, auch die Schmerzen ließen so weit nach, daß man die Morphiumdosen entscheidend verringerte. Trotzdem noch jeden Morgen diese Angst: Sie erkennt das Zimmer nicht, sie weiß nicht, wo sie ist und was ihr bevorsteht. […] - Nun soll demnächst noch einmal Chemotherapie probiert werden […]. Fr. M. ist der Ansicht, daß man kämpfen muß und sie nicht einfach unter Qualen krepieren lassen kann […]. Es sei keine »unnütze Quälerei«, wenn man sie für die Zeit, die ihr noch geblieben ist, soviel wie möglich Lebenshilfe gebe. Der Befund in der Halswirbelsäule sei noch kein Befund zum Tode, Herz und Kreislauf seien bei ihr stark, das Blutbild erstaunlich gut.

Ich versuchte, mit diesen Informationen ausgerüstet, Brigitte nachher ein bißchen aufzumuntern. Sie sagte: Sie wolle oft gar nicht mehr leben, sondern endlich zufrieden gelassen werden und Ruhe haben. Schreiben könne und wolle sie eigentlich nicht mehr, sie wisse auch nicht, was. Sie steht doch nun schon über drei Jahre abseits und sehe zu, ohne sich groß zu engagieren. Und sie werde auch in Zukunft das meiste nicht können, immer an der Ecke stehen müssen, wie als Kind und junges Mädchen mit ihren Beinschienen. Wenn die anderen Tanzstunde nahmen und ihre ersten Liebschaften hatten, mußte sie immer alles durch die Märchen kompensieren, die sie schrieb. Jetzt aber könne sie durch Schreiberei nicht mehr alles andere aufheben. - Ich verwies auf ihren Zuwachs an Reife, auf das, was sie noch zu sagen haben werde, wenn sie erst körperlich wohler sei …

Sie sagte: Und dann muß ich sowieso jedes Jahr wochenlang hier herumliegen, damit ich wieder ein bißchen weiterleben kann. Sie sagte aber auch: Ich hab doch immer wieder Dusel und falle auf die vier Pfoten. Vielleicht werde ich noch, wenn ich siebzig bin, wieder auf meinen vier Pfoten landen. […]

An Brigitte Reimann

[Kleinmachnow,] 1. 10. 72

Liebe Brigitte,

[…] Ich war sehr froh, daß ich neulich so lange mit Dir sprechen konnte, und besonders, als ich hörte, Du kritzelst wieder ein bißchen Tagebuch. Mir geht mein vermaledeites Buch, zu dem ich keinen Zugang finde, jetzt bis in meine Träume nach. Neulich träumte ich ganz deutlich eine lange Geschichte, die mit dem Wort »Erinnerungslücke« schloß.

[…] Gerade lese ich ein Buch - in Vorbereitung auf die Erziehung meines Enkelkindes - über »freiheitliche Kindererziehung in der Familie«. Na, da haben wir mit unseren Kindern viel falsch gemacht. Meine Güte, wie verklemmt waren wir doch in den 50er Jahren! Und wie schwer fällt es uns, schreibend damit wirklich fertig zu werden …

Ich hab meinen Kram zusammengepackt, den ich nach Kühlungsborn mitnehmen will, zu diesem Genetikerkongreß über »ethische Probleme der Genetik«. Mal sehen, ob die inzwischen über ihren reinen Zweckmäßigkeitsstandpunkt etwas hinausgekommen sind …

Wenn ich zurück bin, melde ich mich gleich und komme so bald wie möglich.

Ich grüße Dich!

Deine Christa

Wenn man Dir mit dem Tropf nicht nur Medikamente, sondern auch Lebensmut und Lebenskraft einträufeln könnte!

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