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Bernd Begemann: Gazpacho ist aus – heute gibt es Pesto

Die Welt nach Corona und Beziehungsaus: Auf dem Album »Milieu« offenbart sich ein Bernd Begemann, wie man ihn nicht kannte

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Bernd Begemann, der Udo Jürgens der Independentszene.
Bernd Begemann, der Udo Jürgens der Independentszene.

Der gemeine Songwriter spielt sein Leben lang den gleichen Stiefel. Das muss er auch, weil sonst die Anhängerschaft erzürnt ist. Manche Stones-Jünger haben ihrer Leib-und-Magen-Band die Ausflüge in Disco-Gefilde (»Miss you«, »Emotional rescue«) nie verziehen. Auch Marius Müller-Westernhagen kann ein Lied davon singen. Als er 1986 mit »Lausige Zeiten« ein aufregendes Synthiepop-Album herausbrachte, bestraften ihn die Fans mit Liebesentzug. Danach zog Westernhagen die Lederjacke an und beschränkte sich auf Mitgrölschlager für Stadionbesucher.

Selbst der unkorrumpierbare Bernd Begemann weiß, wie weit er bei seinen Anhängern gehen kann. Als sich sein St.-Pauli-Bild längst grundlegend verändert hatte, spielte er auf Konzerten noch immer das mythengetränkte »Oh, St. Pauli« (1996). Die wesentlich kritischere Gentrifizierungsanklage »St. Pauli hat uns ausgespuckt« (2015) hätte vermutlich einige der Zuschauer verstört.

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Denn natürlich haben Begemann-Fans eine genaue Vorstellung davon, wie »ihr Bernd« zu klingen hat. Er ist der Mann fürs Private, fürs Kleinteilige. Für Beziehungsgeschichten, für Alltagsbeobachtungen. Der Feinsinnige, dem selbst beim Fernsehschauen Details auffielen, die unsereins nie erkannt hätte. Zynisch wirkte das nie, allenfalls selbstironisch.

Vor allem live. Auf der Bühne war er der Star der Antistars. Der Udo Jürgens der Independent-Szene. Die großen Gesten verrutschten bei ihm den entscheidenden Zentimeter. Was ihn umso sympathischer machte. Und spätestens, wenn er nach dem dritten Lied sein Jackett mit den Worten auszog: »Ich wollte Stil und Klasse verkörpern, und jetzt schwitz ich wie ein Schwein«, hatte er den Saal auf seiner Seite.

Umso überraschender kam dann sein Album »Eine kurze Liste mit Forderungen«. Der Text von »Die Reichen haben gewonnen« hätte auch von Franz Josef Degenhardt stammen können. So viel Antikapitalismus hätte man ihm, dem vermeintlich Unpolitischen, nie zugetraut. Und in manchen Songs legte er einen Sarkasmus an den Tag, der zwar nachvollziehbar war, aber auch irritierend. Zeilen wie »Ich habe meinen Frieden gemacht mit dem Arschloch von der Deutschen Bank, das meinen Eltern unser Haus geklaut hat; der musste wahrscheinlich auch nur irgendwelche Vorgaben erfüllen« klangen so gar nicht nach dem verständnisvollen Menschenfreund, als den man ihn in Erinnerung hatte.

Das war Ende 2015. Anfang 2018 brachte er mit Kai Dorenkamp (Mitglied seiner Band »Die Befreiung«) das Unplugged-Album »Die Stadt und das Mädchen« heraus – alte Stücke neu eingesungen und nur vom Klavier begleitet. Noch mal zwei Jahre später kam Corona. Bernd Begemann kaufte sich einen OLED-Fernseher mit rund zwei Metern Bildschirmdiagonale und tat das, was viele Musiker damals taten: irgendwie durchhalten.

Und einen klaren Kopf bewahren. Im November 2021 postete er auf Facebook das Schild einer Konditorei, deren Besitzer wegen der Corona-Maßnahmen entkräftet aufgab. Begemanns ernüchterter Kommentar hierzu: »Ich habe das nicht vermasselt. Richard David Precht, Sahra Wagenknecht und Jan Josef Liefers haben das vermasselt. Ganzheitliche Anthroposophen haben das vermasselt. Alle Mitbürger haben es vermasselt, die nicht verstehen, dass wir uns in keiner ambivalenten Situation befinden, sondern in einer binären: Lässt du dich impfen, um die Gefahr zu beenden? Ja oder nein?« Er musste feststellen, dass es auch in seinem Bekanntenkreis Menschen gab, die gedanklich abdrifteten. Doch er setzt bis heute auf die Kraft der Argumente: »Ich rede mit allen. Manchmal kann man Leute zurückholen, manchmal umarmen sie voller Wonne ihren neuen Irrsinn, dann muss man sie ziehen lassen.«

Was bleibt, ist die Hoffnung. Auf seinem neuen Album »Milieu« singt er: »Verbesserung kommt langsam, Schritt für Schritt. Ich weiß, das klingt lahm: Aber mach doch mit! Gemäßigt ist das neue Radikal.« Da schluckt man erst mal. Mit solchen »Explicit Lyrics« geht er noch einen Schritt weiter als 2015. Oder ganz weit zurück. Stücke mit Appellcharakter kennt man eher von Liedermachern der 70er Jahre, die ein bestimmtes Publikum erreichen wollten. Begemann hingegen war der Mann für alle. Der Songwriter, auf den man sich einigen konnte. Das ist diesmal anders, und so erklärt er auch den Albumtitel: »Viele Songs durchdringen ein bestimmtes Milieu.«

Es ist schließlich so höllisch viel passiert seit 2015. Leider auch privat. Bernd Begemann ist wieder Single. Schon früher kam es vor, dass er bei seinen Bühnenauftritten Persönliches erzählte, z.B. von der gescheiterten Beziehung zur Mutter seiner Tochter. Aber auf Platte wahrte er die Distanz. Das Ich in Liedern wie »Ich kann dich nicht kriegen, Katrin« klang bei aller Inbrunst fiktiv. Insgeheim dachte man: Vielleicht hat er sie doch gekriegt. Und wenn der gut aussehende Bernd Begemann sang: »Wir sind zweimal 2. Wahl, wir sind ein unattraktives Paar«, dann hatte das einen Hauch von Koketterie.

Doch Ambivalenz – siehe oben – passt nicht mehr in diese Zeit. Eindeutigkeit ist verlangt. »Dass ich so mutig und stark wär’, ist schon etwas länger her – kann kein Allein mehr.« Was er sich wünscht: »Ein anderer Mensch, der dich nicht reduziert. Eine Gemeinschaft, die dich besser macht, als du warst.« Geht es noch deutlicher? Bitte sehr: »Ich muss berührt werden, von einem Mensch und einer Idee.«

Ja, selbst seine Ode an Bett, Bildschirm und Kühlschrank (die drei Rettungsanker, wenn man unterzugehen droht) gerät weniger ironisch als erwartet. Was soll man von folgenden Zeilen halten? »Hallo Welt, bitte lass mich in Ruh. (…) Denn ich bin ein komplett nutzloses Geschöpf.« Das sich anschließende »Und das ist OK« lässt einen dann aufatmen – Bernd Begemann ist nicht Ian Curtis (Joy Division), eher Dragoslav Stepanović (Eintracht Frankfurt): »Lebbe geht weider.«

Dazu passt dann auch die Musik. Natürlich gibt es wie auf jedem Begemann-Album ein paar langsamere, verspieltere Titel. Aber der Grundton ist diesmal schrammeliger, garagiger, weniger poppig. »Eine kurze Liste mit Forderungen« war sein »White Album« gewesen, eine Wundertüte mit 28 locker hingeworfenen Liedern (»Ich könnte jede Woche ein Album mit neuen Songs rausbringen«). »Milieu« bringt es nur auf die Hälfte der Stücke. Es wirkt nicht nur textlich, sondern auch musikalisch kompakter. Auf die Frage, warum er über acht Jahre für ein Album mit Neukompositionen gebraucht hat, antwortet Bernd Begemann: »Ich musste mich erst in dieser neuen Streaming-Ära orientieren und ein paar Ressourcen auftun.«

Was soviel heißt wie: Wo das Geld knapper wird, muss man sich genau überlegen, was man auf CD presst. Kulinarisch gesprochen: Wenn »Eine kurze Liste mit Forderungen« ein großer Kessel Gazpacho war, dann ist »Milieu« ein Pesto. Ein Konzentrat. Hier ist kein Wort und kein Ton zu viel. Bernd Begemann hat gesagt, was er sagen musste. Gut möglich, dass manche seiner Fans sich verwundert die Ohren reiben werden.

Bernd Begemann & die Befreiung: »Milieu« (Brilljant Sounds)

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