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Eine neue »Stadtguerilla«

Die größte Hausbesetzung Südamerikas findet im brasilianischen São Paulo statt

  • Georg Ismar, São Paulo
  • Lesedauer: 4 Min.
478 Familien, 2000 Bewohner. In São Paulo findet eine der größten Hausbesetzungen der Welt statt. Auf 30 Etagen haben Menschen, die vorher zum Teil auf der Straße lebten, ein Zuhause gefunden.

Der Portier hat lange auf der Straße geschlafen. Nun sitzt er an der vordersten Front, um das Refugium zu verteidigen. Walter Ribeiro ist strenger als so mancher Portier in den hermetisch gesicherten Wohnblöcken der Oberschicht. Aber dieses Hochhaus mit der Nummer 911 in der Avenida Prestes Maia im Herzen der brasilianischen 12-Millionen-Metropole São Paulo ist eben kein gewöhnliches.

Fremde dürfen erst nach Konsultationen mit dem Hausrat die düstere Treppe hochgehen. »Wir hatten viele Kämpfe mit der Stadt«, erzählt Ribeiro, während der Fernseher läuft, über alte Kameras hat er das Geschehen vor der Tür auf der Straße im Blick. Eduardo dos Santos Jacinto kommt die Treppe herunter, etwas verloren steht seine einjährige Tochter Maria Estella in der großen, von trübem gelben Licht beleuchteten Eingangshalle. Der Vater ist Lkw-Packer. 40 Real (9,50 Euro) pro Lastwagen, maximal 1500 Real (355 Euro) im Monat. »Vorher musste ich 700 Real Miete zahlen, das ist für mich wie ein Paradies«, erzählt er. Beste Lage in der Stadt, alle helfen sich. »Wir organisieren auch die Reinigung zusammen, es gibt kaum Konflikte.« 21 bewohnte Stockwerke hat Block A, neun Block B.

Nachdem der Torre David, ein besetztes Haus mit 45 Stockwerken in Venezuelas Hauptstadt Caracas, geräumt wurde, gilt dies als größte Hausbesetzung Südamerikas. In den 60er Jahren gebaut, war hier eine Kleidungsfabrik untergebracht, dann stand es fast 30 Jahre leer. 2002 schon einmal besetzt, ist es seit 2010 in den Händen dieser neuen »Stadtguerilla«. Wo früher die Bewegung der Landlosen ungenutzte Ländereien besetzte, ist dies ein Sozialphänomen, das die Verstädterung mit sich bringt.

Hohe Mieten und Lebenshaltungskosten, wenig bezahlbarer Wohnraum - es gibt im Haus 911 bereits eine Warteliste. Alles ist voll, wenn etwas frei wird, entscheidet ein Bewohnerrat, wer hier einziehen darf. 2015 kaufte die Stadt das Gebäude dem Besitzer für 22 Millionen Real (5,2 Millionen Euro) ab - und will den Zustand nach und nach legalisieren. Die Investition wurde im Rahmen des Sozialwohnungsprogramm »Minha Casa - Minha Vida« (»Mein Haus - Mein Leben«) getätigt. Nach und nach soll das Gebäude demnächst renoviert werden. Dann sollen aber auch kleine Zahlungen fällig werden, das birgt großes Konfliktpotenzial.

Die Familien sollen bleiben können - aber ob das für alle gilt? Heute regnet es überall ein und die kleinen, provisorischen Wohneinheiten auf engstem Raum bergen in Sachen Feuerschutz ein hohes Risiko. Im Moment zahlen die Bewohner 50 bis 100 Real im Monat für Wasser, Strom und Portier (11 bis 22 Euro). Es geht die dunkle Treppe hoch, einen Fahrstuhl gibt es nicht. Es riecht nach Urin, auf jedem Stockwerk gibt es ein Gemeinschafts-WC für ein Dutzend Familien.

Als erstes fällt im ersten Stock ein gelbes Graffiti ins Augen, mit den Drei Affen: Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen. Früher, zu Fabrikzeiten war jeder Stock eine große Halle, nun sind überall mit Holzbrettern Räume abgetrennt, 10 bis 15 Quadratmeter groß, oft mit fünf Matratzen auf der Erde. Praktisch keine Privatsphäre. Und es gibt kaum Fenster, oft dienen Pappen oder dünne Holzplatten als Regenschutz, zum Lüften werden sie einfach ausgehängt. Im Büro der Selbstverwaltung stapeln sich Hunderte Briefe, die Bewohner müssen hier vorbeikommen und sich ihre Post raussuchen. »Das hier ist eine Antwort auf die stark steigenden Mieten«, so Koordinator Julio Rocha.

Die nackten Zahlen: 3,8 Prozent Wirtschaftseinbruch, 10,7 Prozent Inflation, alles wird teurer. Zwischen 2014 und 2015 stieg die Zahl der Arbeitslosen um 2,7 auf 9,1 Millionen. Das deutsche bischöfliche Hilfswerk Misereor hat die angespannte Lage in São Paulo zu einem Schwerpunkt der diesjährigen Fastenaktion gemacht. Denn die Zahl der Obdachlosen habe sich in den letzten zehn Jahren auf 15 000 Menschen verdoppelt, die Stadtfläche sei seit 1965 von 700 auf etwa 1500 Quadratkilometer angewachsen. Viele Menschen wohnten in Hütten oder abbruchreifen Häusern und Massenquartieren. Daher unterstützt Misereor das Menschenrechtszentrum Centro Gaspar Garcia, das für würdige Wohnverhältnisse in São Paulo kämpft und auch das besetzte Hochhaus 911 in den Verhandlungen mit der Stadt unterstützt.

Besuch bei Rita de Cassia (48), Hausbesetzerin der ersten Stunde. Sie liegt noch im Bett, eine Wand ist frisch gestrichen. »Wir haben viel gemacht, hier war überall Müll«, erzählt sie. »Das ist jetzt mein Zuhause, hier fühle ich mich wohl. Ich werde nicht mehr gehen.« dpa/nd

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