Im Dschungelcamp

Nicht nur in Griechenland sind viele Geflüchtete gestrandet, weil in Europa nach der Losung »Abschottung« regiert wird. Helfer aus der Bundesrepublik sind ins französische Calais gereist, um dort in einem Flüchtlingslager zu helfen - bei der Selbstorganisierung. Auszüge aus dem Tagebuch der Gruppe Refugee Support Calais

  • Lesedauer: 7 Min.

Warum wir fahren

Die humanitäre Lage ist nicht nur an den Außengrenzen der EU katastrophal, sie spitzt sich auch an den wieder errichteten Binnengrenzen zu. Überall in Europa sind Menschen mit ihren Hoffnungen auf ein sicheres und menschenwürdiges Exil gestrandet. Einer dieser Orte ist die nordfranzösische Hafenstadt Calais. Seit Jahren versuchen MigrantInnen hier, nach Großbritannien überzusetzen. Ihre Gründe sind legitim und so verschieden wie die Fluchtursachen. Doch seit der Abriegelung des Eurotunnels im Oktober 2015 wird eine Weiterreise immer gefährlicher und unwahrscheinlicher. Seitdem sitzen Tausende im »Jungle« von Calais fest - im »Dschungel«.

Umso wichtiger ist es in diesen Tagen der Perspektivlosigkeit die Unterstützung aufrecht zu erhalten, denn die Menschen sehen keine Alternative als dort zu warten. Seit Monaten helfen selbstorganisierte Freiwilligenstrukturen aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland bei der Basisversorgung im Camp, denn große Hilfsorganisationen und staatliche Akteure sind nicht vor Ort. Die humanitäre Hilfe ist in Calais also unmittelbar verschränkt mit der direkten Unterstützung der Geflüchteten im Kampf für ihre Rechte und ein menschenwürdiges Leben. Weil wir nicht länger zuschauen können, wie die Staaten Europas Hunderttausende Menschen auf ihrer Flucht physisch und psychisch zugrunde richten, werden wir die Selbstorganisation und die politischen Kämpfe der Geflüchteten in Calais unterstützen.

Spenden aus Passau und Leipzig

Wir haben uns bei »L’Auberge des Migrants« angemeldet. Über calaidipedia.co.uk ist das international und dezentral möglich, man bekommt Infos für die Vorbereitung sowie eine Packliste. Wir nehmen die erforderliche Ausrüstung für Müllaufsammeln, Bürotätigkeiten oder Spendensortieren mit. Wir haben Decken, Schlafsäcke, Isomatten, Säcke voll Handschuhe und Trainingshosen sowie warme Klamotten und Erste-Hilfe-Material aus Sachspendenbeiträgen eingepackt, der Großteil davon stammt aus Passau und aus Leipzig.

Bis vor kurzem gab es im Camp die selbstorganisierte Bibliothek »Jungle Books« mit angeschlossenem Medienzentrum, also Computern. Sie befand sich im südlichen Teil des »Dschungels« und wurde bei einer Räumung durch die Polizei vor einigen Tagen abgerissen. Seit bekannt wurde, dass der nördliche Teil des Camps vorerst legalisiert ist, soll »Jungle Books« in Form zweier mobiler Zentren wieder aufgebaut werden. Deshalb haben wir PCs, Drucker und Büromaterial mit, um diese Vorhaben zu unterstützen.

2500 Mahlzeiten täglich

Unser Tagesprogramm startete mit dem frühmorgendlichen Treffen der Freiwilligen. Nicht nur die Frühsporteinlage, sondern insbesondere die Vorstellung der »vom Camp beschlossenen« Kleiderordnung für Frauen sorgen für erstes Befremden unsererseits. Der spätere Praxistest lässt jedoch erahnen, dass die Menschen, die im Camp leben, wichtigere Probleme haben als die Länge des Oberteils, das die Helferinnen tragen. Bei der Aufgabenverteilung wird nach Menschen mit Tischler-, Klempner- und Schweißerkenntnissen sowie nach Personen mit Auto gefragt. Alle anderen, die teils über Monate, teils einige Tage oder sogar nur Stunden mithelfen wollen, sortieren und verteilen die zahlreichen Sachspenden, kochen täglich 2500 Mahlzeiten, bauen Infrastruktur oder organisieren im Hintergrund.

Fragen - und hitzige Debatten

Geschafft von der körperlichen Anstrengung aber befeuert durch die Erfahrungen, die wir in Calais bei der Hilfe machen, versuchen wir unsere Eindrücke und Gedanken in teils hitzigen Diskussionen zu reflektieren: Wie kann sich der eigene emanzipatorische Anspruch in einem Umfeld wie dem »Dschungel« verwirklichen? Ist es nicht am Ende eben doch nur die Abmilderung einer Katastrophe, bei der wir helfen - ohne jede Hoffnung darauf, mehr als das notdürftige Überleben von Menschen mitzuorganisieren? Was unterscheidet uns im Moment denn eigentlich noch von anderen Hilfsorganisationen, abgesehen vom Grad der Professionalität, wenn wir nicht wenigstens im größten Elend noch auf Momente der Solidarität und Selbstbehauptung zielen? Und wie verträgt sich ein solcher Anspruch mit der Tatsache, dass wir das Verhältnis zwischen freiwilligen Helfern und Camp-BewohnerInnen nicht als ein Miteinander auf Augenhöhe empfinden?

Die Routine kommt schnell

Während wir gestern noch die »Neuen« waren, stehen wir heute schon auf der Stufe »eingeübt«: Mussten wir gestern selbst noch nachfragen, welches Kleidungsstück wo einsortiert wird, wurden diese Fragen heute auch an uns gerichtet. Es stellt sich eine gewisse Routine ein, die es mit sich bringt, dass die Widersprüche unserer Hilfe eher verdrängt als bearbeitet werden. Denn für Bearbeitung fundamentaler Sinnfragen bleibt angesichts der Fülle von Aufgaben, der Notwendigkeit zu helfen und der Dringlichkeit der Situation kaum Zeit.

Was ein Lächeln maskieren kann

Jeden Freitag ist Schuhe-Verteilungs-Tag. Ein großes Event im Camp, dementsprechend fällt der Andrang aus. Unsere Aufgabe besteht darin, mit besänftigendem Lächeln erhitzte Gemüter zu beruhigen, »Stand in line!« zu rufen und diejenigen, für deren Schuhgröße es keine Schuhe mehr gibt, auf später zu vertrösten. Kurz: Wir sollen die Lage unter Kontrolle halten, Rangeleien verhindern, für Ordnung sorgen. Die Fragezeichen in unseren Köpfen werden größer: Warum soll ich erwachsene Menschen zurechtweisen und auffordern, sich in die Schlange einzureihen? Warum soll ich sie unterhalten, während sie darauf warten, durch die Fenster eines Containers eine Unterhose gereicht zu bekommen? Soll mein Lächeln faktische Autorität und strukturelle Hierarchien maskieren?

Containerlager: Wie im Gefängnis

Wir packten die Technik, die wir für die kleine selbstorganisierte Bibliothek und Schule mitgebracht haben: für »Jungle Books«. Zuerst helfen wir im Camp beim Müllbeseitigen im legalisierten Nordteil. Dort soll in den kommenden Tagen ein öffentlicher Kochplatz mit Lagerfeuerstelle und Community Space entstehen. Für uns klingt das nach einem sinnvollen Vorhaben, bei der Räumung des südlichen Teils etliche autonome Restaurants und Gemeinschaftseinrichtungen dem Erdboden gleich gemacht wurden. Die französische Regierung will nicht, dass es in einem Flüchtlingslager Selbstorganisation gibt - das staatliche Containerlager nebenan ähnelt eher einem Gefängnis. Es wurde den in die Obdachlosigkeit gedrängten Flüchtlingen des südlichen Lagerteils als Alternative offeriert. Umgeben von meterhohen Zäunen wohnen die Menschen hier in ehemaligen Schiffscontainern. Der Zugang erfolgt über bewachte Drehkreuze, an denen Fingerabdrücke abgegeben werden müssen.

Dschungel aus Dreck und Lumpen

Eine Familie, die wir beim Verteilen von Klopapier getroffen haben, hat den Containern den Rücken gekehrt und ist wieder in einen der Wohnwagen im »Jungle« eingezogen. Die humanitären Zustände sind hier nach wie vor katastrophal. Zwar ist der halbe Meter Schlamm nach gut zwei Wochen ohne größeren Regen abgetrocknet. Doch nach wie vor liegen überall Müll, Lumpen, Baumaterial. Große Pfützen modern wie Sümpfe vor sich hin. Ratten rennen über das Gelände. So sieht es also aus, wenn staatliche Basisleistungen wie Müllabfuhr über Jahre hinweg fehlen.

Wiederaufbau der Bibliothek

Sharif wohnt seit Monaten im Camp und leitet »Jungle Books«. Die Bibliothek befindet sich direkt zwischen Kirche und Schule - mitten in einem Feld aus Asche und Müll. Es sind die einzigen Hütten, die hier noch stehen. Sharif sagt, irgendwann werden auch sie umziehen müssen. Wir laden gemeinsam mit Bewohnern die mitgebrachte Technik aus und trinken einen Tee. Zwar hatten wir vorher abgeklärt, dass es sinnvoll ist, Computer mitzubringen. Heute müssen wir aber feststellen, dass unsere vier PCs und Monitore mit einem Generator, der lediglich 3,6 Kilowatt liefert und dem es ständig an Benzin fehlt, kaum zu betreiben sind. Die Drucker, Scanner und Kopierer lassen wir da.

Die Situation ist irgendwie symptomatisch für das Verhältnis zwischen der von außen kommenden Hilfe und den Bedürfnissen der Geflüchteten vor Ort: Oft will das eine nicht recht zu dem anderen passen. Wir werden uns morgen erneut mit den Leuten in der Bibliothek treffen, um gemeinsam zu schauen, wie wir das Projekt eines Medienzentrums dennoch unterstützen können. Derweil kaufen wir schon einmal Router, Simkarten und Toner, um die bestehende Technik aufzurüsten und zum Laufen zu bringen - und für die Rechner suchen wir schon nach einem Einsatzort.

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