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  • Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer

Warum wir die Kunst vermissen

Das Verlangen nach Perfektion kehrt sich oftmals in sein Gegenteil um

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.

Es ist heute zum Paradox geworden, von Heilkunst zu sprechen. Moderne medizinische Praxis fördert die kreativen Prozesse nicht, durch die sich komplexe klinische Wahrnehmungen zu Diagnose und Therapie verdichten.

Das Wort Kunst finden wir in der ärztlichen Welt nur noch im Kunstfehler. Sobald über ihn zu oft prozessiert wird, wird die Angst vor dem Fehler mächtiger als das Interesse an der Kunst. Dann schlägt sich die Kreativität stillschweigend in die Büsche. Ihren Platz übernimmt eine defensive Überfürsorglichkeit, die viel Geld kostet. Wer sich an Regeln hält, ist von allen Fragen nach deren Sinn und der Qualität der Ergebnisse befreit.

Defensives Vorgehen schafft mehr Probleme, als es jemals lösen kann. In dem Bestreben, verantwortungslosen Helfern das Handwerk zu legen, wird in allen Beteiligten ein Bild aufgebaut, das sie zu Misstrauen und Gefahrenabwehr zwingt. Wer aufgewühlt und verängstigt Hilfe sucht, wird umfassend aufgeklärt: Alle Maßnahmen haben ihre Komplikationen und er - der Patient - müsse jetzt entscheiden, was gut für ihn sei. Das ist menschlich armselig und politisch korrekt.

Wie weit sind wir gekommen, wenn nur der Unfallchirurg am ohnmächtigen Patienten bedenkenlos sein medizinisches Können verwirklichen kann? Muss ich als Kranker erst das Bewusstsein verlieren, damit der Arzt mich sofort behandelt und einfach das Beste tut, was er kann?

In einer Studie von David Studdert et al. von der Harvard School of Public Health gestanden 93 Prozent der befragten 824 amerikanischen Ärzte, dass ihr Verhalten gegenüber den Patienten davon beeinflusst sei, Haftungsklagen vermeiden zu wollen. Sie überwiesen Patienten zu Röntgenaufnahmen, die sie für überflüssig hielten. Wo sie Komplikationen befürchteten, schickten sie den Patienten lieber weiter - Praxis überfüllt, sorry.

Der freundliche Augenarzt hat mir gesagt, dass die von ihm vorgeschlagene Staroperation eine winzige Komplikationsrate hat. Ich sehe ihr beruhigt entgegen, bis mir seine Sprechstundenhilfe ein Formblatt aushändigt, dessen Empfang ich quittieren soll. Darin steht, dass ich mich über die Gefahr einer Erblindung habe aufklären lassen. Ich schlafe nicht mehr so ruhig in den Nächten vor dem Eingriff.

Der Tugendhafte macht keine Fehler, und wer Fehler macht, ist nicht mehr tugendhaft. Parallel dazu und ungestört vom Widerspruch wird in allen Sonntagsreden auch die These vertreten, dass alle Menschen Fehler machen und eine dem Eingeständnis dieser Fehler und dem Lernen aus ihnen aufgeschlossene Kultur unentbehrlich sei für die Entwicklung von Professionalität.

Im Umgang mit den Bedürfnissen kranker Menschen widersprechen sich Justiz und Psychologie dramatisch. Die emotionale Situation eines Patienten ruft nach einem Helfer, der weiß was er tut und die Verantwortung für die vorgeschlagene Kur übernimmt, ohne Zweifel an ihr zu wecken und Ängste zu säen.

Die Rechtsprechung geht von einem mündigen Bürger aus, dessen Interessen geschützt werden müssen, indem er vor der Entscheidung für eine bestimmte Behandlung über alle Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt wird.

Viel Energie und manches Leid würden wir uns ersparen, wenn wir Fehler sehen könnten wie missratene Kunstwerke, fehlfarbige Bilder, verhauene Skulpturen. Es ginge dann darum, den Fehler wahrzunehmen, ihn zu benennen und darauf zu vertrauen, dass daraus der Impuls wächst, es besser zu machen. Wenn wir den Fehler verfolgen und maximal bestrafen, gewinnen wir nicht mehr reale Sicherheit.

Es ist eine kriminologische Binsenweisheit, dass die soziale Prognose am besten ist, wenn der Delinquent auf sein Vergehen hingewiesen, aber nicht bestraft wird.

Als ich meine Ausbildung zum Psychotherapeuten begann, war diese Tätigkeit längst nicht so reglementiert wie heute. Ich habe damals sogar geglaubt, dass eine »stärkere« Professionalisierung gut ist und Fortschritte bringt. Aber ich dachte nie an die Eiferer von heute, die alles in Schwarz oder Weiß malen und eine professionelle Welt durch ein Höchstmaß an Vorschriften erzwingen wollen.

Dem Künstler wird zugebilligt, dass er scheitern darf, um an den durch dieses Scheitern gewonnenen Einsichten zu wachsen. Aber wenn ein bisher wegen seiner Wohltätigkeit und seines Engagements in hohen Tönen gepriesener Kaufmann Steuern hinterzieht, ein angesehener Politiker verdächtige Bilder kauft, ein anderer ein halbes Gramm Rauschgift in der Tasche trägt, haben sie nicht nur einen Fehler gemacht, neben dem der Rest ihres Lebens und ihrer Tätigkeit so unangefochten bestehen bleibt wie die gelungenen Werke des Künstlers neben den missratenen.

Der Shitstorm in den Medien erledigt wie von selbst, was in früheren Zeiten als Steinigung des Sünders immerhin Mühe machte. Damals mussten sich die Gerechten nicht nur bücken und nach einem passenden Wurfgeschoss suchen, sondern sie hörten auch den bis heute noch zu wenig beherzigten Hinweis aus dem Evangelium des Johannes: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein.

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