Protest erreicht die Banlieues

In Frankreich weitet sich bei der »Nacht im Stehen« die Besetzung von Plätzen auf die Problemvororte aus

  • Bernard Schmid, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Unter dem Motto »Nuit debout«, Nacht im Stehen, wird seit zwei Wochen in Frankreich gegen soziale Ungerechtigkeit demonstriert.

Jenseits des Boulevard périphérique - der Ringbauautobahn, die um das 1860 definierte Pariser Stadtgebiet herum geht und das »eigentliche« Paris von den Vor- oder Trabantenstädten trennt, - beginnt eine andere Welt. So sehen es jedenfalls viele Einwohner der Pariser Kernstadt, vor allem aus bürgerlichen Milieus. Umso wichtiger ist es, sich zu fragen, ob eine in Paris entstandene soziale Bewegung auch den Sprung in die umliegenden Banlieues, also in die Problemzone der Vororte schafft.

Von Anfang an war in Redebeiträgen auf dem Pariser Platz der Republik immer wieder gefordert worden, auch in die Banlieues auszustrahlen, seit er am Abend des 31. März besetzt wurde. Seit diesem Tag ist der Platz faktisch ständig besetzt - abgesehen von jeweils ein paar Stunden wirksamen polizeilichen Räumungen. Aufgenommen wurde der Impuls inzwischen in über 60 französischen Städten. Selbst kleinere Städte wie Saint-Aubin-du-Cormier mit 3000 Einwohnern sind nach den Regionalmetropolen Marseille, Lyon oder Lille mittlerweile einbezogen.

Es blieb die Frage nach dem Übergreifen auch auf die Banlieues. Neben der geografischen Distanz kommt hier eine deutliche soziale Spaltung hinzu. In Paris prägen Menschen aus den intellektuellen Mittelschichten, Studierende und Lehrkräfte das Bild, das die Öffentlichkeit von dem besetzten Platz hat. Das gilt trotz der Tatsache, dass die Teilnehmerschaft in Wirklichkeit sozial durchaus stärker sozial differenziert ist. Auch viele prekär Beschäftigte nehmen an der Besetzung teil. Gewerkschaftlich organisierte Lohnabhängige bleiben etwas diskreter im Hintergrund, sichtbar präsent sind oft Menschen aus der Ökologiebewegung sowie aus der Migranten-Solidarität. Ein Teil der Presse versucht, das Ganze jedoch als eine Art Luxushobby darzustellen.

Der Sprung in die Problemgebiete wurde am Mittwoch unternommen. Am Vormittag besetzten in Saint-Denis, der alten Königsstadt in der nördlichen Pariser Vorstadtzone, erzürnte Eltern insgesamt 200 Schulen. Sie protestieren gegen Einsparungen in ihrem krisengeprägten Département, gegen zahllose Unterrichtsausfälle mangels Ersetzung fehlender Lehrkräfte und allgemein die systematische Vernachlässigung des ärmsten Verwaltungsbezirks Frankreichs - von den Überseegebieten einmal abgesehen. Am Spätnachmittag riefen sie dann zu einem öffentlichen Sit-in auf. 400 Menschen kamen, um auf einer Vollversammlung unter freiem Himmel zu debattieren.

Anderswo hatte es bereits Versuche zur Organisierung von solchen Zusammenkünften in den Vorstädten gegeben. Das bleibt jedoch schwierig. Aus Noisy-les-Champs östlich von Paris berichten Teilnehmer und die bürgerliche Presse, es seien nur 30 bis 40 Menschen gekommen. Eine linksliberale Zeitung zitiert einen schwarzen Passanten: »Wen wollt ihr denn repräsentieren, es sind keine Afrikaner, Araber oder Asiaten unter Euch?« Die durch die Zeitung publizierten oder im Internet kursierenden Bilder von dem Ereignis widerlegen diese Aussage. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass sich viele Einwohner aus sozialen Unterklassen und solche mit Migrationshintergrund angesichts bisheriger Erfahrungen skeptisch gegenüber stehen. Bislang schlägt Misstrauen in den Trabantenstädten zum Teil auch der Platzbesetzerbewegung entgegen.

In Paris hingegen ist es eher die Staatsmacht, die ihr zu schaffen macht. Seit Tagen häufen sich polizeiliche Provokationen, am Montag schüttete die Bereitschaftspolizei CRS etwa einen Riesentopf mit Suppe aus der Essenausgabestelle einfach in die Gosse. Die Staatsmacht möchte vor allem festere Aufbauten auf dem Platz wie die »Kantine«, die Krankenstation oder die Lautsprecheranlage verhindern oder vertreiben. Der Parteichef der regierenden Sozialdemokratie Jean-Christophe Cambadélis erklärte, »um einen Rahmen zu wahren«, brauche es »CRS debout«, also wache Polizisten.

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