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Der Liebe wegen

Tatjana Kuschtewskaja war auf russischen Friedhöfen unterwegs

  • Karl-Heinz Jakobs
  • Lesedauer: 6 Min.
Es ist ein merkwürdig heiteres, besinnliches Buch: Zunächst erhalten wir Auskunft über Taphonomie und Taphophi-lie. Was mag das sein? Nur von Taphophobie ist in einem meiner Nachschlagebücher die Rede, der krankhaften Angst, lebendig begraben zu werden. Gogol zum Beispiel (Nikolai Wassiljewitsch, 1809-1852) litt daran und beschwor seine Freunde, ihn erst zu bestatten, wenn sein Körper Anzeichen von Verwesung zeige. Nun geschah es aber, dass 1931 sein Grab auf dem Friedhof des Moskauer Danilow-Klosters eingeebnet und sein sterblicher Rest umgebettet wurde. Und was fand man? Die Gebeine wurden ohne Schädel gefunden, gekrümmt auf der Seite liegend und die Auskleidung des Erdmöbels war wie von Fingernägeln zerrissen. Jaja, ich weiß, wahrscheinlich eine weitere Gogoliade, trickreich erfunden, um diesen Lieblingsdichter der Russen noch geheimnisvoller zu verklären. Taphonomie meint die Lehre von der Begräbniskultur, und mit Taphophilie ist die merkwürdige Vorliebe gemeint, auf Friedhöfen spazieren zu gehen. Es müssen aber verlassene Friedhöfe sein. Die gibt es in Deutschland kaum noch. In Russland dagegen sind solche alten Friedhöfe zahlreich. Man kann auf schattigen Alleen wandeln, sich in Poesie, Vergangenheit und Ewigkeit versenken. Was gibt es alles zu erzählen in einem Buch, das auf Friedhöfen spielt: Von der Touristin in Moskau etwa, die bei ihrem zweistündigen Aufenthalt einen Studenten bittet, ihr doch das Grab von Sergej Jessenin (1895-1925, Selbstmord) zu zeigen, wo sie schnell mal ein paar Blumen niederlegen möchte und es - zum Donnerwetter, ja, der Liebe wegen - auch tut. Von den Vorgängen im Höhlenkloster von Pskow, in dessen Grabkammern eigentlich nur fromme Mönche beigesetzt werden, aber 1990 kam eine Mafia-Abordnung mit 200 000 Dollar und bat, für ihren soeben im Bandenkrieg erschossenen Anführer eine Nische freizugeben, was auch geschah, aber die Folgen, Menschenskind, die Folgen! Ein Kapitel widmet die Autorin dem berühmtesten deutschen Grab auf dem Wwedenskoje-Friedhof in Lefortowo: dem des deutschen Arztes und Wohltäters Friedrich Joseph Haas (1790-1853). Kein deutsches Lexikon kennt ihn, in Russland jedoch wird er noch heute geschätzt. Vom Rogoschskoje-Friedhof in Moskau wird in einem anderen Kapitel erzählt, wo vor allem die Altgläubigen der orthodoxen Kirche beigesetzt wurden, die sich mit zwei Fingern bekreuzigten statt mit drei und die von der zaristischen Polizei und der offiziellen Kirche als Antimonarchisten und Ketzer bis ins tiefste Sibirien verfolgt wurden. Zwei Millionen Altgläubige gibt es noch in Russland. Den Neujungfrauen-Friedhof in Moskau liebt die Autorin besonders. Viele bedeutende Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler sind hier bestattet: Majakowski, der Sänger Schaljapin, der Maler Lewitan, Bulgakow, Tolstoi, Ehrenburg ... Vom Grab des Schriftstellers Jewgeni Nossow in Kursk wird erzählt, auf dessen Gedenkstein eingemeißelt ist: »Füttert im Winter die Vögel«, von den heiligen Friedhöfen der Inuit auf der Wrangel-Insel, der Niwchen auf Sachalin, der Burjaten am Baikalsee und vom letzten Willen eines kämpferischen Atheisten, der verfügte: »Wenn ich sterbe, soll mein Leichnam zu Seife verarbeitet werden.« Ein Kapitel gilt dem berühmtesten Grab der russischen Unterwelt: Sonka Goldhändchen war eine der schillerndsten Banditinnen Europas. Romane und Theaterstücke wurden über ihre Abenteuer verfasst, ein Film mit Marlene Dietrich gedreht. Als Tschechow (1860- 1904) seine Reise zur Insel Sachalin unternahm, um die Lebensweise der Verbannten kennen zu lernen, gelang ihm auch ein Blick durch das Schlüsselloch von Sonkas Zelle, wo sie nervös umherwirbelnd auf das Urteil wartete. In Moskau und Paris war sie zu Hause, in Rom, Warschau, Budapest und Wien. In Berlin wurde sie Madame Guten Morgen genannt, weil eine ihrer Spezialitäten war, als Grande Dame in die teuersten Suiten der elegantesten Hotels einzudringen und alles wegzutragen, was von Wert und leicht zu transportieren war. Tauchte der eingetragene Gast auf, pflegte sie zu sagen: »Ach, Guten Morgen, ich habe mich in der Zimmernummer geirrt«. Dabei war sie charmant und von hypnotischer Erotik, wie einer ihrer Vernehmer gestand, mit tiefen, braunsamtenen Augen, denen keine Gemeinheit anzusehen war. Einem sibirischen Kaufmann stahl sie in Nishni Nowgorod in einer feucht-fröhlichen Nacht 300 000 Rubel und einem Untersuchungsrichter während des Verhörs die goldene Uhr. Ein Dutzend Mal wurde sie verhaftet, immer gelang ihr die Flucht. Sie wurde verurteilt, verbannt und ausgepeitscht ... Ihr Grab auf dem Moskauer Wagankowskoje-Friedhof stand lange unter Denkmalsschutz, weil ein berühmter italienischer Bildhauer es gestaltet hatte: Eine riesige schmiedeeiserne Palme und eine lebensgroße leidende Frauengestalt, der nun allerdings der Kopf fehlt. Am wenigsten mag die Autorin den Moskauer Neuen Donskoje-Friedhof mit seinen asphaltierten Wegen und plumpen Grabmälern, wo vor allem Sowjetspione, Stalinpreisträger und verdiente Tschekisten begraben sind. »Aber es ist ein Vogelparadies«, erzählt sie, »hier schwirrt es nur so von Nachtigallen, Rotkehlchen, Amseln, Finken, Spechten und jenen wunderschönen Abendschwärmern, die der Volksmund Fliegenfänger nennt«. - Anders dagegen der Alte Donskoje-Friedhof, wo auf den Wegen Gras wächst und die Grabmale alte Wappen und Freimaurersymbole zeigen. Hier ist auch Pjotr Tschaadajew begraben (1794-1856), ein früher russischer Aufklärer und Philosoph, der den Dekabristen nahe stand und der geharnischte Schriften gegen Leibeigenschaft und patriarchalische Slawophilie schrieb, weswegen sie ihn ins Irrenhaus sperrten. Das ganze humanistische Russland stand auf seiner Seite, und das ist so bis heute geblieben,. Über all die vielen Gräber russischer Dichter und Vorkämpfer des demokratischen Russlands weiß die Autorin kenntnisreich und mit innerer Betroffenheit zu erzählen. Von Wladimir Wyssozki (1938- 1980) zum Beispiel, dem zu Sowjetzeiten beliebtesten Schauspieler, Dichter und Liedersänger, verheiratet mit Marina Vlady, für den mit Spenden seiner Anhänger ein Platz auf dem Wagankowo abgetrotzt wurde. Das, was die Sowjetmacht befürchtet hatte, trat ein. Sein Begräbnis wurde zu einem Volksauflauf, sein Grab zur Pilgerstätte seiner Anhänger. Der reich bebilderte Band zeigt ihn als lebensgroße Skulptur. Ganzseitig abgebildet ist auch die Friedhofskirche des Höhlenklosters von Swjatogorsk, wo neben anderen Persönlichkeiten russischer Kultur und Historie auch der Musikmäzen Fürst Nikolai Golizyn seine Ruhestätte fand, dem Beethoven einige Kompositionen gewidmet hat. Dies ist nun das siebte Buch, das Tatjana Kuschtewskaja in Deutschland veröffentlicht hat. Selbst Russland-Kenner erfahren hier viel Neues. Trauriges ist darunter, Merkwürdiges, Komisches und Bedenkenswertes. In Russland war sie bekannt als Dokumentarfilmerin. Nach Deutschland kam sie 1991 der Liebe wegen. Wenn man ihr bloß die neckischen Reden an ihre Leser abgewöhnen könnte. Gibt es denn keinen, der ihr das mal sagt? Apropos Gogol: Als die Autorin an der Moskauer Filmhochschule studierte, besuchte sie mit Gleichgesinnten am liebsten sein Grab mit Rotwein in der Tasche und seinem »Briefwechsel mit Freunden« unterm Arm. Während der Rotwein die Runde machte, wurde aus dem Buch gelesen und debattiert. Dabei kamen auch die merkwürdigen Umstände bei der Umbettung der Gebeine zur Sprache: Wo ist Gogols Schädel geblieben? Es gab Hinweise auf den theaterbesessenen Kaufmann Bachruschin, der als Sammler solcher Trophäen bekannt war. Und hat sich Gogol tatsächlich im Grab umgedreht oder haben die Friedhofswärter, die in Bachruschins Auftrag Gogols Leiche den Schädel abnahmen, im Eifer der Grabschändung den Tatort derart unordentlich hinterlassen? Gestritten wurde auch über den Lorbeerkranz, der dem Verblichenen im Sarg aufgesetzt worden war. Hinterher wurde er Blatt für Blatt versteigert. Man kam vom Hölzchen aufs Stöckchen. »Du lieber Schreck«, entsetzt sich Tatjana Kuschtewskaja heute, »was haben wir uns am Grab Gogols ereifert!« ... Und das bei kreisender Rotweinflasche ....
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