Theater 2.0

Neue Horizonte für eine alte Kulturtechnik bei der re:publica

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei der Webkonferenz re:publica ging es um viel. Um die Freiheit des Internets in erster Linie, aber auch um die Zukunft des Theaters. Zum Themenkomplex immersive Kunst war im Rahmen der re:publica sogar ein eigenes Gebäude hergerichtet. Im Kühlhaus, einst Aufbewahrungsort für Rinder- und Schweinehälften, sah man am vergangenen Dienstag auf drei Etagen Menschen mit klobigen Virtual-Reality-Brillen vor den Augen an Tischen sitzen, durch den Raum laufen, manchmal hüpfen und zuweilen wild mit den Armen rudern. Die Brillen waren das Fenster in dreidimensional wirkende Räume, in denen man herumlaufen, Objekte greifen, anderen Subjekten begegnen und den Gesetzen der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen konnte. Der virtuelle Raum, der sich dem VR-Brillenträger eröffnete, hat das Zeug dazu, die Bühne des 21. Jahrhunderts zu werden.

Wer davon überzeugt ist, war auch auf der re:publica. Björn Lengers etwa, der gegenwärtig mit seinem Team in den Räumen des Deutschen Theaters Schillers »Räuber« zu »Cyberräubern« macht. Die Szenen zwischen Amalie und Franz Moor wurden mit drei Kameras im Performance-Capture-Modus und 360 Grad-Tonaufnahme-Verfahren aufgenommen und die Daten dann so mit den separat aufgenommenen Räumlichkeiten des DT-Foyers und ebenfalls digitalisierten Objekten aufbereitet, dass die Zuschauer neben die virtuellen Repräsentanzen der Darsteller treten, sie von allen Seiten betrachten und - mit etwas Geschicklichkeit - sogar aus deren Augen die Szene verfolgen können.

In »Doghouse« von der dänischen Makropol-Truppe schlüpfte man per VR-Brille direkt in die Körper der Teilnehmer eines Familienessens. Die Szene ist mit stereoskopischen Kameras aus der Perspektive jedes einzelnen Performers aufgenommen. Deshalb ist man durch Blickrichtungen und Körperbewegungen des jeweiligen Darstellers geführt. Das artet zuweilen in physisch empfundenen Zwang aus, wenn der Blick sich zur Seite neigt und plötzlich die Lippen des virtuellen Nachbarn zum Wangenkuss ganz nahe kommen. Die Atmosphäre eines von Zwistigkeiten überwölbten Familientreffens entfaltet sich so aber auf besondere Weise.

Was sonst in Sachen VR-Technik noch alles möglich ist oder möglich werden könnte, war im Rahmen einer Minimesse im Kühlhaus ebenfalls zu erfahren. Die Berliner Firma Trotzkind etwa entwickelte eine VR-Version des »heute journals«. Mit VR-Brille bestückt, betritt man zunächst das Nachrichtenstudio, wird dann von Objekten umschwirrt, die aus den News-Clips kommen und nimmt im Rahmen der Berichterstattung schließlich selbst im Raumgleiter-Cockpit an der ersten erfolgreichen Marslandung teil und wird auch noch mit einem Ausstieg in den Weltraum belohnt. Unerwartete Gefühle durchströmen hier den Körper; solche Art VR knüpft an das Theater als Gefühlserzeugungsapparat an.

Aber auch neue Bewegungsformen sind denkbar. Die niederländische Firma Doctor Kinetic entwickelte ein VR-Spiel für die Anwendung im Reha-Bereich, bei dem man die Bewegung seiner Figur über einen Naturparcours durch Laufen, Hüpfen und Drehen steuert. Studenten und Absolventen der Mediadesign-Hochschule Berlin stellten Anwendungen vor, bei denen man durch Armbewegungen Räume »greifen« und mit Schwimmzügen durch sie hindurchgleiten konnte. Eine charmante Mischung aus Low- & Hightech stellte die Flucht per Rollstuhl durch ein virtuelles Hochhaus dar, bei der Tritte gegen den realen Stuhl Kollisionen im virtuellen Raum illustrierten und bei Konfrontation mit Wasser tatsächlich ein paar analoge Spritzer auf den VR-Reisenden trafen.

In solchen Kreuzungen von virtueller und analog-physischer Realität könnten denn auch die interessantesten Möglichkeiten für die Bühnen des 21. Jahrhunderts liegen.

Es gibt aber auch Möglichkeiten ganz abseits solcher Eintauchkanäle in den virtuellen Raum. Das wurde beim Immersive-Themenkomplex der re:publica ebenfalls deutlich. Das Kollektiv Tools for Action stellte etwa seine aufblasbaren, ca. zwei mal zwei mal zwei Meter großen Würfel vor, die bei Demonstrationen als so verspielte wie wirkungsvolle Barrikaden gegen die Polizei eingesetzt werden können. Sie feierten Premiere beim Generalstreik in Barcelona 2012 und wurden auch beim Klimagipfel 2015 in Paris eingesetzt. Polizisten, die gegen die gigantischen luftgefüllten Objekte mit Schüssen, Hieben und Stichen vorgingen, muteten aufgrund des Größenunterschieds zum attackierten Gegenstand wie Kinder an, die mit großen Luftballons kämpften. Die verspiegelten Oberflächen erschweren zudem Videoaufnahmen von den Barrikadenbauern. Tools for Action erarbeitet gegenwärtig in Zusammenarbeit mit dem für neue Technologien besonders aufgeschlossenen Theater Dortmund eine Choreografie mit diesen Riesenobjekten im öffentlichen Raum und will das als Gegenaktion zum geplanten Neonaziaufmarsch am 4. Juni in der Ruhrgebietsstadt nutzen.

Immersion, der Sog hinein in andere Welten, kann durch geeignete Objekte also auch im realen sozial-politischen Raum erfolgen.

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