Ein politischer Anspruch treibt viele um

nd-Interview mit dem Schrifsteller Enno Stahl: Seit Donnerstag diskutieren in Berlin erneut Schriftsteller und Sozialwissenschaftler über »Richtige Literatur im Falschen«

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Resonanz auf die erste Konferenz über »Richtige Literatur im Falschen« letztes Jahr war sehr groß. Wie sind Sie mit den Reaktionen zufrieden?
Wir waren sehr zufrieden, vor allem über den Verlauf der Konferenz, aber auch über die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich ungewöhnlich intensiv und sachbezogen an den Diskussionen beteiligten. Zudem gab es im Netz im Anschluss an die Tagung lebhafte weitergehende Auseinandersetzungen. Das war für uns der Beweis, dass diese Thematik, ein politischer Anspruch von und an Literatur, durchaus viele Menschen umtreibt.

In der »taz« wurde die Global-Analyse kritisiert, die versuche, Eindeutigkeiten herzustellen, wo Ambivalenzen angebracht wären.
Es ist die Eigenschaft von Ambivalenzen, speziell in den Endwehen der Postmoderne, dass sie dazu führen, alles sehr stark im Vagen und Uneindeutigen zu belassen. Wenn 20 Menschen verschiedener beruflicher Provenienz miteinander diskutieren, gibt es zwangsläufig Ambivalenzen. Wir hielten es für geraten, einmal einen möglichen größten gemeinsamen Nenner auszuformulieren - als offenes Angebot an die Teilnehmer.

Andere Berichterstatter vermissten Kohärenz, weitere eine Art gemeinschaftliches Manifest. Soll jetzt ein Manifest verabschiedet werden? Warum gibt es eine Fortsetzung?
Besonders bei der Presse gab es diese stark unterschiedlichen Lesarten: Den einen fehlte es an Ambivalenzen, den anderen an Kohärenz. Es war aber nicht beabsichtigt und wäre auch illusorisch gewesen, ein gemeinsames Manifest zu verabschieden. Das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Wir sehen diese Veranstaltungen als einen Prozess der Annäherung und Vergewisserung, als einen Versuch, mit mehr oder weniger gleichgesinnten Autorinnen, Autoren, Theoretikern und Theoretikerinnen ins Gespräch zu kommen und auf diese Weise Anregungen für die eigene Praxis zu erhalten. Die Fortsetzung gibt es, weil das damals von allen Teilnehmern als wünschenswert betrachtet wurde. Leider sind diesmal einige Leute verhindert, so dass es ein paar neue Gesichter geben wird.

Laut Ankündigung soll der zweite Teil sich stärker auf die Frage der »Zukunft« beziehen. Wie soll das konkret aussehen?
Nachdem wir uns beim letzten Symposium auf die Gegenwart konzentriert haben, Symptome der Krise zu formulieren versuchten, zugleich über literarischen Realismus in Vergangenheit und Gegenwart nachdachten, möchten wir diese Beschäftigung nun - auch in durchaus spekulativer Weise - auf die Zukunft richten. Wir wollen, ausgehend von der jetzigen Krisensituation, darüber sprechen, in welcher Weise sich die Gesellschaft entwickeln könnte - im Guten oder im Schlechten. Natürlich möchten wir Szenarien entwickeln, wie sich die derzeitige Lage produktiv für eine Optimierung oder Transformation der gegenwärtigen Gesellschaft nutzen lassen könnte. Auch das Thema Realismus werden wir weiterverfolgen und darüber sprechen, ob und in welcher Weise realistische Schreibansätze auch in der Zukunft Erfolg versprechen könnten.

Was erwartet die Besucher auf der zweiten Tagung darüber hinaus?
Anders als beim letzten Mal wird es eine Auftaktdiskussion geben mit Christina Kaindl, der Leiterin des Bereichs Strategie und Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle der Partei Die LINKE, und Armen Avanessian, einem Theoretiker, der die Reader zum Akzelerationismus im Deutschen herausgegeben hat. Das soll uns zwei mögliche Entwürfe vorstellen, damit wir dann im weiteren Verlauf der Tagung eigene Positionierungen analog, ergänzend oder auch in Kontroverse dazu einnehmen können.

Sie rechnen mit Kontroversen?
Eine Kontroverse wird es ganz sicher geben gleich bei der Anfangs-Sektion am Freitagmorgen, bei der es um die zukünftige Rolle und Funktion des Literaturbetriebs geht. Florian Kessler, Lektor beim Hanser-Verlag, ist überzeugt, es gebe keine echte Alternative außerhalb dessen, daher müsse man um einen besseren Betrieb ringen. Ann Cotten negiert diese These vehement, ihrer Meinung nach gibt es sehr wohl Platz und Notwendigkeit für unabhängige Protest-, Gegen- und Subkulturen.

In einem Jahr kann sich die Welt schnell ändern. Die Stichwörter Flucht, Migration und Rassismus fallen einem da sofort ein. Inwieweit spielen dies Themen auf der Tagung eine Rolle?
Beim letzten Mal waren diese Probleme tatsächlich noch nicht so virulent. Sie bezeichnen allerdings meines Erachtens Symptome, Konsequenzen der ökonomisch-politischen Weltlage. Wahrscheinlich werden sich diese Prozesse noch verschärfen und genau solche Phänomene gilt es in den Diskussionen prognostisch zu fassen. Inwieweit diese Sujets in den Diskussionen Bedeutung erlangen werden, darüber kann ich nicht spekulieren. Das Wichtigste an unserer Konzeption ist die gänzliche Freiheit der Debatte. Wir führen die einzelnen Slots durch thematische Inputreferate ein, die einen Anstoß zur inhaltlichen Auseinandersetzung geben sollen - zunächst der engeren Tagungsteilnehmer, später auch des gesamten Plenums. So ergebnisoffen wie die Zukunft sind letztlich auch die Gespräche bei unserer Konferenz.

Im Feuilleton der »Neuen Zürcher Zeitung« (NZZ) standen kürzlich folgende Zeilen: »Der Kapitalismus zählt inzwischen zu den beliebtesten und berüchtigtsten Geistern der Gegenwartsliteratur.« Und weiter: »Nachdem eine Wirtschafts-, Banken- und Rettungskrise auf die nächste folgt, ist Kapitalismuskritik zum Erfolg versprechenden Gassenhauer avanciert.« Was halten Sie von solchen Einschätzungen?
Kapitalismuskritik als Trendthema zu bezeichnen, davon halte ich gar nichts. Es geht hier um eine gewachsene historische Auseinandersetzung. Solange es Kapitalismus gibt, existiert notwendig auch die Kritik daran. Meiner Meinung nach konstituiert sich das Gros des weltliteraturgeschichtlichen Kanons aus im engeren oder weiteren Sinne kapitalismuskritischen Texten. Verwunderlich ist eher, wie sehr die deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesen Angriffspunkt in den letzten drei Jahrzehnten aus den Augen verloren hat.

Aber es gibt doch Rainald Goetz’ »Johan Holtrop« oder die Romane von Ernst-Wilhelm Händler …
»Johan Holtrop« lasse ich gelten. Und es gibt noch andere Beispiele, die allerdings eher die Ausnahme denn die Regel darstellen. Ernst Wilhelm Händler allerdings ist genau das Gegenteil davon, ein Propagandist neo-liberaler Weltauffassung.

Der Autor des NZZ-Artikels beschreibt das Kapitalismus-Bild in der Gegenwartsliteratur wie ein sich ausbreitendes Virus. Verursacher und Gegenmittel seien unbekannt. Ist die Literatur hier ratlos?
Ich glaube nicht, dass es Aufgabe der Literatur sein muss oder kann, ein Remedium gegen den Kapitalismus zu bieten. Es geht vielmehr darum, kritische Perspektiven wachzuhalten, andere neu zu eröffnen und eventuell sogar, Handlungsmöglichkeiten aufscheinen zu lassen. Dass aber Verursacher unbekannt seien, diese Vorstellung kann man getrost vernachlässigen. Und diese wurden und werden immer wieder in wirklicher, engagierter Literatur benannt. Ich brauche da nur auf die Veröffentlichungen unserer Tagungsteilnehmer zu verweisen. Denn aus just diesem Grund haben wir sie ja eingeladen.

Online: lfbrecht.de/

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