Neue Verhandlungen und höhere Zölle

Im Falle des Brexit müsste Großbritannien seine Handelsbeziehungen neu regeln

  • Christian Mihatsch
  • Lesedauer: 3 Min.
Sollte Großbritannien aus der EU ausscheiden, müsste es Verhandlungen mit den Ländern führen, die ein Handelsabkommen mit der EU haben. Es mangelt aber an qualifizierten Unterhändlern.

Die Brexit-Befürworter haben stets betont, dass Großbritannien ohne die EU einfacher Handelsverträge mit Drittstaaten aushandeln könne. Boris Johnson sagte in einer Rede im Mai: »Für Jahrzehnte wurde ein Abkommen mit den USA von der französischen Filmindustrie blockiert, und die aktuellen TTIP-Verhandlungen kommen nicht voran, weil die griechischen Hersteller von Feta etwas gegen amerikanischen Feta haben.« Der Umkehrschluss lautet: Wenn sich nur noch Briten und Amerikaner gegenübersitzen, geht alles einfacher und schneller.

Doch dies könnte sich als Illusion herausstellen: »Da die EU seit den 1970er Jahren die Führung in Handelsverhandlungen hat, verfügt Großbritannien schlicht nicht über das Personal mit dem richtigen technischen Wissen«, schreibt Miriam Gonzales Durantez von der englischen Anwaltskanzlei Dechert in einem Beitrag in der »Financial Times«. Die ehemalige EU-Handelsdiplomatin warnt: »Nicht-EU-Länder haben britischen Firmen Zugang zu ihren Märkten im Austausch für den Zugang zu den 500 Millionen Konsumenten in der EU gegeben. Da der britische Markt nur 67 Millionen Konsumenten hat, ist es nur natürlich, dass diese Länder Neuverhandlungen verlangen werden.« Solche Verhandlungen sind personalintensiv: Auf der Seite der EU seien »typischerweise 20 Diplomaten und 25 bis 40 technische Experten beteiligt«.

Und dann macht Durantez folgende Rechnung auf: »Selbst wenn Drittstaaten bereit wären, auf Grundlage der bestehenden Abkommen (zwischen der EU und diesen Ländern) zu verhandeln, braucht Großbritannien 500 Unterhändler, die ein Jahrzehnt hart arbeiten.« Doch selbst wenn alle britischen Handelsdiplomaten aus Brüssel abgezogen würden, käme man nur auf ein Team mit rund 25 Leuten. Großbritannien müsste folglich versuchen, 475 ausländische Verhandler zu rekrutieren - ein Unterfangen, das aus Sicht von Durantez »mehr als Glück erfordert«.

Hinzu kommt, dass Großbritannien auch noch mit der EU verhandeln müsste. Der britische Think Tank Open Europe hat sich mit dieser Frage beschäftigt und die Chancen Großbritanniens für verschiedene Branchen analysiert: Grob gesagt sind die Aussichten für einen einfachen Zugang zum EU-Markt beim Güterhandel besser als beim Handel mit Dienstleistungen. Das liegt zum einen daran, dass die EU gegenüber Großbritannien beim Güterhandel einen Überschuss von mehr als 60 Milliarden Pfund verzeichnet. Selbst als EU-Inländer sind britische Hersteller keine große Konkurrenz. Anders bei Dienstleistungen: Hier verzeichnet Großbritannien einen Überschuss von rund zehn Milliarden Pfund pro Jahr. Zum anderen liegt es aber auch in der Natur der Handelshindernisse selbst. Die EU-Zölle auf Güterimporte sind meist relativ niedrig, während der Import von Dienstleistungen durch EU-Vorschriften erschwert wird, die Großbritannien nicht einfach wegverhandeln kann. So schätzt Open Europe die Chance auf einen einfachen Zugang zum EU-Markt für Finanzdienstleistungen als »niedrig« ein. Aber auch der Handel mit einigen Gütern würde durch einen Brexit beeinträchtigt: So könnten sich britische Autohersteller mit einem EU-Zoll von zehn Prozent konfrontiert sehen.

Noch nicht berücksichtigt sind überdies Verhandlungen über einen eventuell erforderlichen Neu-Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Deren Chef Roberto Azevedo warnt: Britische Rechte in der WTO befänden sich im Falle eines Brexit »in einem Vakuum«. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass die EU und Großbritannien mit allen WTO-Mitgliedern verhandeln müssen.« Im Vorfeld des Brexits hatte Azevedo von jährlich zusätzlichen Zollzahlungen in Höhe von mehr als sieben Milliarden Euro für Großbritannien gesprochen.

Angesichts dieser Aussichten kam Rodney Baron Leach of Fairford, der kürzlich verstorbene Vorsitzende von Open Europe, zum Schluss: »Wenn Großbritannien soviel Aufwand betreiben würde, um die EU zu reformieren, wie sie bräuchte, um einen Brexit zum Erfolg zu führen, wären Großbritannien und die EU besser dran.«

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