Das große Rätsel Gnade

Der Schriftsteller Martin Mosebach und der Typus des Reaktionärs als Aufklärer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Vernunft, tätig im liberalen politischen Auftrag, hat ihren Besserungs- und Belehrungscharme verloren. Sie gräbt sich fortwährend den Zauber ab - auf den Fronfeldern dieser groben Zeit. Freiheit? Grassierende Unbeherrschtheit. Demokratie? Stimmungsmulm. Utopien? Nur noch ein Phantomschmerzmittel. Die Konservativen haben längst vergessen, was zu konservieren sei - und die Revolutionäre verdrängen nach wie vor, dass sie zwar eine historische Epoche lang nichts zu verlieren hatten, nunmehr aber nichts mehr von dem zu verlangen haben, was etwa nur mit Krawall oder K-Gruppen-Geist zu vertreten wäre. Und die Leitartikler in den Rezepturredaktionen? Schreiben sich im Parteientagesgeschäft müde und hoffen, wenn sie denn endlich in den nächtlichen Schlaf fallen, nicht von der Vergeblichkeit ihrer Zeilen träumen zu müssen.

In solcher Lage lockt außenseiterischer Geist. Martin Mosebach. Des Erzählers Sprache: Lebendiges und Dingliches wird Erscheinung, als male das Wort den alten Meistern der Gemälde-Kunst nach. Die Ausführlichkeit brilliert mit Maß und Balance, aber auch die Knappheit weiß alles von Wirkung. »Die Gegenwart als die ans Tageslicht geratene Eigenschaft der Vergangenheit«, so hat Mosebach über die Literatur Heimito von Doderers geschrieben, es ist seine eigene Sehensweise. Nichts hält an, nichts hält sich, nichts hält, was es versprach. Dieser Schriftsteller erzählt von Verlusten - als einer Einladung.

Der Schriftsteller aus Frankfurt am Main betrauert in seiner Prosa (»Das Beben«, »Der Nebelfürst«, »Der Tod und das Mädchen«, »Die Türkin«, »Das Blutbuchenfest«) die Zerhäckslungstechnologien, mit denen sich kleiner Geist immer und überall die Welt fasslich und überschaubar macht. Aber er schreibt nicht mit fassungslosem Befremden, nicht mit stürmischem Zorn, nicht mit der flammenden Bosheit eines Beleidigten. Mosebach ist souverän, er bleibt von gnadenvollem Witz, und wo in seinen Romanen der Sarkasmus einzieht, da zieht er ausgesprochen sanft ein.

In seinen Essays offenbart er katholische Strenge, gottesfürchtige Gebundenheit und eine fast monarchistische Melancholie. Das ist Vielen zu viel an Zumutung - in diesem 21. Jahrhundert, das zu wenig Mut hat zur Einkehr in der Wahrheit: »Der Mensch ist ein Rätsel, sein Glück ist ein Rätsel, das größte Rätsel ist die Gnade, die nach unauslotbarem Entschluss glücklich oder unglücklich macht.« Mosebach denkt wider alle metaphysische Verarmung: »Die Welt, wie sie sein soll, und wie sie gedacht ist, wird sich erst nach dem Jüngsten Tag zeigen. Bis dahin sehen wir in einen dunklen Spiegel - und wir dürfen nicht so tun, als sei dieser Spiegel gar nicht dunkel oder als sei er kein Spiegel.«

Politik aber muss so tun. Das Gerumpel zwischen Macht und Gegenmächten vollzieht sich allüberall unter fadenscheinigen Selbsterhöhungen, man kämpfe für bessere Verhältnisse. Spiegelfechten, Parteiendemokratie genannt. Gegenseitige Erweichungstaktiken, bis man als Koalitionär anerkannt ist. An Kultur gebundener Geist (und Glaube!) aber, er darf jenseits des Alltags auf einem Absolutum, auf einer Reinheit bestehen, die den sozialen Schreien und Schründen der Welt auf den ersten Blick verheerend altmodisch, entrückt entgegenstehen mag. Dahinter jedoch steckt der Wille, den höheren Sinn - der darauf bestehen muss, dass wir zu niedrig für ihn sind - bloß ja nicht an einen Betrieb zu verlieren, der andauernd mit fataler Heiligsprechung des Beschädigten, des Halbgewalkten beschäftigt bleibt. Wir verderben, was wir berühren. Wenn wir es nur immer im Griff haben zu wollen.

Im Essay »Die Häresie der Formlosigkeit« erneuerte Mosebach seinen Gedanken, das Sakrale entschieden vor dem Profanen zu schützen. Das ist kein Eifern, das ist Blick aufs Unverfälschte, das dem Menschen Konzentration abfordert - und Konsequenz. Nämlich bei der Verweigerung, in den Glückssimulator der Stressgesellschaft einzusteigen. Ratsam ist, »rechtzeitig aufzugeben und so bescheiden und geschmackvoll wie möglich unterzugehen«, wie es im Roman »Eine lange Nacht« heißt.

Mosebach plädiert in seinen Essays für eine rituell sich reproduzierende Gesellschaft - in Zeiten, da jede Erneuerungsrhetorik oftmals auch nur die jeweils modernste Melodie des Althergebrachten bleibt. In öffentlichen Debatten erfährt man selten, dass etwas anders sein könnte als schon tausendmal vor- und durchgekaut. Ein Reaktionär? Bei diesem Wort kann nur der ideologische Grobianismus ins Beben kommen. Ja, Mosebach ist Reaktionär - aus weltfühlender Intelligenz. Er ficht fürs Ungebrochene, Unzeitgemäße. Sieht das Ziel des Einzelnen darin, »den historischen Zusammenhang ganz zu verlassen«, wie es in den philosophischen Notaten seines geistigen Anverwandten heißt, des Kolumbianers Nicolás Gòmez Dávila. In einem Text über den DDR-Dichter Peter Hacks hebt Mosebach hervor: Die Avantgarde einer Epoche habe für diesen Autor Hacks aus all dem bestanden, »was die Gegenwart als besonders abwegig empfindet« und sie also ablehnt und bekämpft. Es sei ein unschätzbares Geschenk, auf diese Weise »mit der eigenen Lebenszeit« und ihren politischen Abstrusitäten »nicht konform zu sein«. Und als der Österreicher Peter Handke an der Beerdigung von Milosevisc in Serbien teilnahm und internationales Spucken auslöste, schrieb Mosebach in der »Zeit«: Es sei schade, »dass der amerikanische Botschafter, der Milosevic zum Bosnienkrieg ermutigte, nicht zur Beerdigung kam. Ein Mann wie Handke, der dem toten Milosevic die Treue hält, sollte uns jedenfalls lieber sein als die vielen Politiker des Westens, die dem lebenden Milosevic seine Verbrechen möglich gemacht haben.«

2007 erhielt Mosebach den Georg-Büchner-Preis. Er zitierte in seiner Rede den flammenden Terrorpathos von Saint-Just in »Dantons Tod«, dessen massenmörderische Doktrin: Geschichtemachen erlaube, einem Naturgesetz gleich, das Schlachten von Millionen. Mosebach: »Wenn wir diesen Worten nun noch das Halbsätzchen einfügten: ,dies erkannt zu haben, und dabei anständig geblieben zu sein', dann wären wir unversehens einhundertfünfzig Jahre später, und nicht mehr in Paris, sondern in Posen, in Himmlers berüchtigter Rede vor SS-Führern.« Ob dieser Assoziation regte sich feuilletonistisch Unmut. Es sei nicht statthaft, die Vorgeschichte hitlerscher Vernichtungsprogramme bis in die Aufklärung zurück zu verlängern, sie mit Französischer Revolution in Verbindung zu bringen. Was der Schriftsteller ansprach, war der allzeitige Skandal der Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Terror, von Aufschwung und Niederriss, von Diktatur und Normalität.

Nun wird er 65, Martin Mosebach, der auf seiner Freiheit besteht, ungesichert zu denken.

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