»He, ein Luftradweg?«

Holger Uske: Die Entdeckung eines Dichters

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Er ist 1955 in Riesa geboren, lebt seit 1959 in Suhl, hat Gerätetechnik studiert und ist als Diplom-Ingenieur, wie so viele nach der »Wende« wohl nicht mehr gebraucht worden. Vielleicht wollte er aber auch lieber zu einer Zeitung? Wer weiß. Jedenfalls ist Holger Uske inzwischen Sachgebietsleiter Kultur und Presse im Rat seiner Heimatstadt und seit 1990 Vorsitzender des Südthüringer Literaturvereins.

Wenn ich von der »Entdeckung eines Dichters« spreche, könnte das für ihn und andere nach hauptstädtischer Ignoranz klingen. Man hätte ihn doch längst kennen können durch seine bislang zehn Bücher und eine CD! Aber so ist das auf dem heutigen Buchmarkt: Veröffentlichungen kleiner Verlage gehen in der Masse der Neuerscheinungen oft unter. Und wer es in eines der großen Editionshäuser geschafft hat, ist auch vor der Enttäuschung nicht gefeit, dass ein erwartetes Leserecho ausbleibt. Wenn so viele Schreibbegabte unterwegs sind, die sich die Aufmerksamkeit des Publikums teilen müssen, geht es nicht gerecht zu, hängt es nicht einmal nur vom Talent des Autors, sondern vor allem vom Verlagsmarketing und dem Engagement des Handels ab, wer größere Bekanntheit erreicht.

Da gibt es freilich noch einen »Geheimweg«: das persönliche Weitersagen, das allerdings gegenseitiges Vertrauen voraussetzt, Vertrauen, das auch nicht enttäuscht werden darf. Das musst du lesen, du wirst es genießen. Bezüglich Holger Uske sei hinzugefügt: wenn du dich in das Sinnen eines Dichters einfühlen kannst. Kontemplativ - das Wort fiel mir bei der Lektüre ein, und gleich kam die Erinnerung, wie abwertend es von manchen Kulturfunktionären in der DDR gebraucht worden ist.

Betrachtend Beschauliches, nach Innen Gerichtetes galt ihnen womöglich als Verschwendung von Energien, die doch so nötig für den Aufbau der neuen Gesellschaft gebraucht wurde. Nichts Einigendes steckte darin, die Vereinzelung mochte aber ansteckend sein. Für entsprechende Veranlagungen fanden sich missbilligend scharfe Worte.

»He, ein Luftradweg?« Aber es ist doch eine großartige Sache, wenn sich jemand über das banal Alltägliche erheben kann, für Momente ganz frei wird im Kopf und diesen glücklichen Zustand vielleicht in sich bewahrt, sogar noch im Büro, wo ihm deshalb womöglich schöpferische Lösungen einfallen. Das rückwärtsgewandt an die Adresse jener, die damals das Kontemplative verteufelten -, eine Polemik, die natürlich heute nichts bringt, deshalb höre ich jetzt auch damit auf. Außerdem sind die besonderen Momente in diesen 22 Texten von Holger Uske nichts Zweckbestimmtes. Wenn sie zu etwas dienen, dann dazu, Lebendigkeit zu spüren, die wir allzu oft allen möglichen Zwecken und Zielen unterordnen, mit einem Berg von Absichten überdecken und uns rechtfertigen, dass es nicht anders geht.

André Schinkel, der Herausgeber der »Edition Muschelkalk«, hat Recht, wenn er Holger Uskes »Ringen um ein absolutes, nahezu punktgenaues Sprechen« rühmt und in ihm den gebürtigen Lyriker erkennt, der seine »Gabe des Hin-Sehens« um eine der »faszinierendsten Regungen« anreichert, die »Menschenwesen gegeben sind: das Staunen«.

Wie sich solches Staunen beim Lesen überträgt, mündet es in Freude an den eigenen Möglichkeiten. Weil man ja nicht nur etwas aufnimmt, sondern Zugang zum geistigen Universum eines anderen Menschen erhält, ja darin sogar selbst zum Mitschöpfer wird. Mitschöpfer in Maßen, denn in den 22 Texten ist immer wieder die Fähigkeit gefragt, sich auf Unvorhersehbares einzustellen. Insofern ist auch die Komposition dieses Bandes zu loben, die die Unterschiedlichkeit der Erzählsituationen und Stimmungen hervorhebt.

Erfahrungen des Schwebens wechseln mit solchen des Fallens, grenzenlose Freiheit mit Eingeschlossensein, Märchenhaftes mit bedrückend Realem, lyrische Selbstversunkenheit mit einer dramatischen Konstellation. »Hier, über diese Grenze musst du gehen, dann sind all die Dinge wahr. Die Grenze war ein einfacher Graben, gebüschbewachsen, sumpfig im Grund.« Und dahinter die Großmutter, die eigentlich tot ist, sie krault den Wolf auf der Ofenbank. Nein, nicht von Rotkäppchen ist die Rede, sondern von Harry Schostakowitsch, seit einiger Zeit schon »Kunde der Arbeitsagentur. Freundliche Verwalter des Nichts. Selbst die Pflanzen inmitten der Flure aus Beton haben das Sprechen verlernt.« Ein ganzer Roman steckt in dem Dreieinhalb-Seiten-Text. Aber die Großmutter sagt: »Wenn du auch anfängst zu lamentieren, fliegst du raus!«

»Ob ich nicht Lust hätte, ab und zu Berichte zu schreiben«, nicht mal diese Frage fehlt in dem schmalen Band, führt aber in Zusammenhänge, die so noch nie erzählt worden sind. An anderer Stelle ist einer der »Wolkenformel« auf der Spur und könnte insgeheim ein Attentäter sein. Eine Frau erlebt einen Glückstag mit einem Drachen. Oder - ein besonders schöner, ganz kurzer Text - ein kleines Mädchen sitzt auf einem Steg am Wasser, ihre Beine wippen hin und her, und sie kritzelt irgendetwas in ein Heft. »Die Buchstaben wachsen auf dem Papier. Zwischen den Blättern, den Zweigen und Ästen, beobachten viele verborgene Augen, was geschieht. Ob sich die Buchstaben lösen können vom Untergrund, aufsteigen und eine Runde drehen um den See. Ob sie einfach ins Wasser fallen, tropfnass zurückkehren und den ganzen Satz verschmieren. Ob sie probieren, selbst zum Blatt zu werden, zum Baum zum Stein …«

»Ich senk mich in die Zeit«, heißt es in »Rabengesang«. Das ist, was einem bei der Lektüre geschieht: Die Zeit, das Wertvollste, das wir haben - wir glauben ja ständig, dass es uns daran mangelt -, dehnt sich, umgibt uns beim Lesen als Unendlichkeit.

Holger Uske: Die Weltenformel. Neue Geschichten. Edition Muschelkalk. Wartburg Verlag. 88 S., br., 14 €.

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