Von den Kehrseiten des Wirtschaftswunders
Szenen aus der BRD: Sechs Hörspiele von Ruth Rehmann
Dieses Buch ist so etwas wie die »nachgetragene Liebe« für eine engagierte Frau und kritische literarische Stimme der Bundesrepublik Deutschland, nämlich für die 1922 geborene und im Januar dieses Jahres gestorbene Schriftstellerin Ruth Rehmann. Aber es ist zugleich mehr, eine Herausforderung und Anfrage an die Leser, inwiefern die zwischen 1960 und 1985 gesendeten Hörspieltexte Ruth Rehmanns noch anregen oder provozieren, ob sie noch aktuell sind. Als Zeitdokumente, also Spiegel von Zeit und Gesellschaft, weisen sie sich schon mit ihren Titeln aus.
Ruth Rehmann war eine der Stillen im Lande und vielleicht deshalb auch Lesern in der DDR zu Unrecht kaum bekannt, obwohl schon ihr erster Roman »Illusionen« (1958) ihr Zugang zur Gruppe 47 verschaffte und obwohl sie zahlreiche Romane, Erzählungen und Hörspiele schrieb, mit Ehrungen und Preisen bedacht wurde und sich immer engagierte - besonders in der Friedensbewegung.
»Diese Sachen - Wirtschaftswunder und Raffen und Aufbauen, das habe ich nie mitgemacht«, hat sie in einem Interview 2008 gesagt, und sie ist sich darin treu geblieben. Ruth Rehmanns klares analytisches Schreiben lässt sich gut an ihrem Buch »Unterwegs in fremden Träumen. Begegnungen mit dem anderen Deutschland« (1993) zeigen und ermöglicht im Bezug zu den Hörspieltexten deren Bewertung. In diesem autobiografischen Buch setzt sie Ereignisse und Gespräche mit Freunden in Ost- und Westberlin im Jahr 1990 in Beziehung zu den Begegnungen auf dem ersten gesamtdeutschen Schriftstellerkongress 1947. Dieses Buch der Begegnungen markiert also einen Zeitraum, dessen Themen die Hörspieltexte spiegeln: eine Epoche ewigen »Wirtschaftswunders« und seiner Kehrseiten. Zeitgeschichte ist in allen Texten Rehmanns so gegenwärtig, dass sie sich ungeschützt der Kritik aussetzten. Das kann für die nachträgliche Rezeption von Nachteil sein und Vorzüge haben.
Hörspieltexte, vor Jahrzehnten ein beliebtes Genre, waren oft Gelegenheitsarbeiten. Damit haben sich auch viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie die junge Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Günther Eich, Wolfgang Hildesheimer usw. ihr Brot verdient. Das Anliegen war zudem die schnelle öffentliche Wirkung.
Die Dialogform der Hörtexte hat Ruth Rehmann sehr geschickt genutzt. Bestes Beispiel dafür ist das Hörspiel »Gehörbildung« von 1975, in dem es um eine allein erziehende junge Mutter und Aushilfslehrerin geht, der plötzlich, vorherigen Zusagen zum Trotz, vom Direktor der Schule gekündigt wird.
Die Texte sind chronologisch geordnet. »Flieder aus Malchien« (1964) sieht schon das Stigma kommender Arbeitslosigkeit voraus. 1976 treten Beziehungsprobleme und Rollenmuster in den Vordergrund. Wesentlich komplexer als 1960 wird in »Herr Selinger geht zu weit« 1977 die Mietshausproblematik mit all den bis heute grassierenden Vorurteilen und Gehässigkeiten gegenüber Mitbewohnern thematisiert. In »Atemnot« steht eine junge Frau im Mittelpunkt, die einer Kleinstadt entflieht, weil sie die durch Kleinbürgermief und ein Chemiewerk verpestete Luft nicht mehr erträgt.
Rehmanns Hörspieltexte sind Soziogramme. Liest oder hört man in sie hinein, begreift man auch die Probleme der letzten fünfundzwanzig Jahre und die Gegenwart besser. Aber sie brauchen den größeren Rahmen, den Kontext, wie ihn ihr autobiografisches Buch aus der Wendezeit bildet.
Ruth Rehmann: Drei Gespräche über einen Mann und andere Hörspiele. Hrsg. und mit einem Nachwort von Werner Jung. AvivA-Verlag. 320 S., br., 19,90 €.
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