Willkommen im Anthropozän!

Wer Klimawandel und Umweltzerstörung verstehen und aufhalten will, muss den historischen Umständen für ihr Entstehen nachspüren

  • Eva Bulling-Schröter
  • Lesedauer: 5 Min.

Alberto Acosta hat in seinem ersten Beitrag zu unserem Blog seine Enttäuschung über die »Mängel des beklatschten Abkommens« von Paris aufgeschrieben. Seine starke, fundierte Kritik kann ich sofort unterschreiben. Auch mir ist die fehlende Verbindlichkeit, die nicht ausreichende Klimafinanzierung vom Norden in den Süden, das fehlende Ausstiegsdatum für Öl, Kohle und Gas zu wenig, um nur drei Schwachstellen zu nennen. Uns allen, die sich seit Beginn der internationalen Klimaverhandlungen in den 1990er Jahren auf dem diplomatischen Parkett der Vereinten Nationen bewegen, ist aber auch klar, dass der Pariser Vertrag genau das ist, was im UN-System mit seinen nervenaufreibenden Konsensentscheidungen machbar gewesen ist: nämlich ein klimapolitischer, globaler Minimalkonsens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bevor wir uns der von Alberto gestellten Frage annehmen, was »jetzt die Herausforderungen für die fortschrittlichen Kräfte auf dem Planeten« sind, um dem Klimawandel rechtzeitig Einhalt zu gewähren, sollten wir uns noch einmal konkret vor Augen führen, wo wir als Menschheit im Umgang mit der Natur heute stehen. »Planet«, »Fortschritt«, »Menschheit« - ich weiß, wer diese riesigen Begriffe in den Mund nimmt, läuft schnell Gefahr, als pathetische Übertreiberin oder kirre Weltuntergangs-Alarmistin in die Ecke gestellt zu werden. Deshalb kann ein kurzer Rückblick helfen, um zu verstehen, wie rasant sich die wirtschaftliche Entwicklung und Naturnutzung wirklich gestaltet hat. Und wie das Wachstums- und Konsummodell, das Alberto als unantastbare »Religion« bezeichnet hat, die (Um-)Welt bis heute umgräbt.

Der Soziologe Oliver Stiegel hat in seinem preisgekrönten Buch »Suffizienz, die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise« (2001, Oekom Verlag) Ursachen und Dynamiken zusammengetragen, die zum modernen Raubbau im globalisierten Kapitalismus geführt haben. Vieles scheint zunächst reine Kopfsache: Das Glück winke dem Menschen der Moderne nicht wie seinen Vorahnen erst nach dem Tod im Jenseits. Alles passiert im Hier und Heute. Liebe, Vergnügen, Genuss und Anerkennung sind in einer säkularisierten Gesellschaft to go im Diesseits zu haben. Längst ist die säkularisierte Gegenwart kein »Jammertal« mehr, wie es die Geistlichen ihren Schäfchen über Generationen einbläuten. Die Befreiung aus unserer Endlichkeit wartet an jedem Spätkauf oder Zigarettenautomat.

Weil unsere Zeit auf Erden begrenzt ist, beschleunigte sich das Streben nach Glück. Und wurde zum Rennen nach immer mehr. In der ersten Hochzeit des Neoliberalismus, nach dem Ende des Kalten Krieges, stellte der Soziologe Peter Gross der »Multioptionsgesellschaft« darum dieses materialistische Zeugnis aus: »Die moderne Rahmenerzählung ist eine reformierte und individualisierte Erlösungs- und Heilvorstellung: Das Jenseits im Diesseits. Steigerung auf allen Ebenen und in allen Seinsbereichen und Steigerung der Teilhabe an den Steigerungen, das ist die moderne Litanei, die zeitgemäße Religion, die politisch verkündet und nachgelebt wird«. Und tatsächlich wird seit dem 17. Jahrhundert mehr und schneller gelebt. In immer kürzeren Zeitabständen werden mehr Gegenstände verbraucht, mehr Feste gefeiert, mehr Genüsse genossen. Ein besseres Leben und ein besseres Selbst, so das Versprechen, ist nach dem neuen Weltbild durch mehr Konsum und Dienstleistungen möglich. Jedenfalls für den, der es sich leisten kann.

Getrieben sind diese psychologisch-kulturellen Muster zuallererst natürlich von Veränderungen und Umwälzungen in den Produktionsweisen- und Verhältnissen. Der Stoffwechsel, angefeuert durch die Wirkung des Menschen auf die Umwelt, verändert sich seit jeher: von den Jäger- und Sammlergesellschaften, über die Agrargesellschaft bis zur heutigen kapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Heute ist der Mensch, beschreibt Stiegel das historische Novum, eine »geophysikalische Kraft geworden, welche die Lebensbedingungen der Erde in erdgeschichtlich bedeutsamer Weise verändert«. Die Wissenschaft diskutiert derzeit, ob wir uns angesichts von Artensterben, Abholzung von Regenwäldern, Flussbegradigungen, Bodenerosion, Flächenverbrauch durch Städte, Vieh- und Landwirtschaft, immer mehr industrielle Aerosole in der Atmosphäre und Chemikalien in den Meeren nicht sogar an der Schwelle eines völlig neuen Zeitalters befinden. Schluss mit dem Holozän, willkommen im Anthropozän! Nicht Wind und Wasser formen den Planeten um, sondern der Mensch als absoluter »Herr« der Erde.

Allein in der größten Dienstleistungsgesellschaft der Erde, den USA, wird am Tag auf künstlich-technischem Weg schätzungsweise achtmal so viel Masse bewegt als durch die Natur, schreibt der Wirtschaftshistoriker Peter Jay in seinem Buch »Das Streben nach Wohlstand«. Erstmals in der Geschichte stößt die Menschheit an die Grenzen der Belastbarkeit des Planeten. Noch mal zum Mitschreiben: In den »zehn Jahrtausenden ihrer wirtschaftlichen Entwicklung«, schlussfolgert der Schweizer, habe die Menschheit »noch nie vor so einer Situation gestanden.«

Den Schaden trägt nicht nur die Natur. Für UmweltschützerInnen ist die Bewahrung der Natur kein Selbstzweck. Für uns Ökolinke bleibt der Mensch im Mittelpunkt. Warum? Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sind 23 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle auf schmutziges Wasser, vergiftete Luft, Strahlung oder veränderte Landnutzung zurückzuführen, bei Kindern sogar unglaubliche 36 Prozent. 24 Prozent aller nichttödlichen Krankheiten entstehen durch Umweltverschmutzung. Der Klimawandel droht das »Aufholen« vieler armer Länder und damit das Entrinnen von Millionen aus bitterer Armut wieder aufzufressen. Es sind also Menschen, die ganz real an der kaputten Umwelt zugrunde gehen. Die meisten von ihnen leben im globalen Süden. Wer den Sozialismus, wer eine gerechtere Welt will, darf also über Umweltzerstörung nicht schweigen. Oder wie verkürzt im Parteiprogramm DIE LINKE (Auch wenn ich anderes versprochen hatte, hier kann ruhig mal etwas Parteilyrik hin.) zu finden: »Eine ökologisch nachhaltige Entwicklung steht im Widerspruch zur kapitalistischen Wachstumslogik. Die ökologische Frage ist zugleich eine ökonomische, soziale und kulturelle - eine Systemfrage.« Linke aller Strömungen, hört die Signale!

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