Ins Höhere
Zum Tode Michel Butors
Ein Jahrhundert kippt nicht einfach so weg. Es stirbt Leben für Leben. Nathalie Sarrault, Alain Resnais, Alain Grobbe-Rillet, Claude Simon, jetzt Michel Butor. »Nouveau Roman«, »Nouvelle Vague« - erst ästhetisches Vergehen in den Augen der Konventionalisten, jetzt wahrlich: Vergangenheit. In Kino und Literatur Frankreichs. Auch Michel Butor ist tot. Wie finden, wie zerstreiten sich in einem Bewusstsein das Erinnern und das Vergessen, die brennende Liebe und das Eisfieber der zerstörerischen Kräfte des Menschen? Das Thema des großen Franzosen. Seine Literatur sprengte enge Zeithorizonte, das Schöne prangte, und doch blieb der Mensch in diesen Erzählungen, Denkspielen, Strukturfantasien ein Ummauerter in den Verhältnissen. Die wechseln, sich aber kaum ändern.
Der neue Roman, das war viel Kühle, viel Untergang; von jenen Autoren, die den Kategoriegierigen gern den Anschein einer Gruppierung schenkten, wagte sich Butor am meisten ins Höhere. Das uns freilich nicht Ordnung schenkt, sondern mit uns würfelt. Des Schriftstellers grundlegende Idee war ein Roman, der wahr- und aufnimmt, und der doch mit durchstoßender Absicht auf die Dinge der Welt und des Lebens zugeht: auf der Suche nach den Möglichkeiten von Empfindungs- und Bewusstseinsweite hinter dem Abbild. »Der Zeitplan«, »Paris, Passage de Milan« und »Paris-Rom«, »Stufen« - das sind Einladungen zu Reise und wacher Empfindung fließender Zeit; im Innern dieser Literatur wehrte sich der Gedanke mehr und mehr gegen das Gespinst, so schlug der Roman den Weg zum Essay ein.
Butor, 1926 geboren, Lehrer in Ägypten, Linguistik-Professor in Nizza, hat den schönen Satz verfasst: »Der Akt des Lesen muss in einer noblen Faulheit vollzogen werden«. Jetzt ist er, wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, gestorben. hds
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