Königtümer der Kotzbrocken

»Königin Lear« von Tom Lanoye am Schauspiel in Frankfurt am Main

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wessen wir bedürfen, das wissen wir, wenn wir die Beraubten sind; und immer erst im Nichts geht dem Menschen der Sinn fürs Wesentliche auf. Bitter, diese Wahrheit - und die heilsamste. Sie für lebbar zu halten, bedarf es der Kunst. Der Beihilfe von Genies.

Shakespeares »König Lear« zum Beispiel ist genial, und just das, was genial ist, reizt zu Überarbeitung, Überschreibung, Übersetzung. Der Belgier Tom Lanoye ist ein Besessener dieses konstruktiven Konfrontation mit großen Geschichten. In »Schlachten!« etwa raffte er vor Jahren (in Hamburg, Salzburg) den achtteiligen Zyklus der Shakespeare-Dramen über die Rosenkriege zu einem grandiosen Spektakel. Zwölf Stunden Geschichte der Macht: von der Politik der einstigen Könige zu den Königtümern der heutigen Kotzbrocken. Fluch, der die Utopien verdampfte und von rechts bis links den Terror der Blutverschwendung kreierte.

Oder »Atropa. Die Rache des Friedens« in München - Dramatik von Euripides und Aischylos, geformt zu einem Mischporträt der alten Atriden und des modernen Europa. Anklage, Klage; ein Blick zurück in Trauer über uns Heutige: Da füllt der Zorn täglich Straßen und Zeitungsspalten, und doch behält der Krieg freien Lauf; da erfüllt der Schmerzschrei Lüfte, aber die Geschosse feiern ihren freien Flug; da zerfetzen wir uns analytisch die Mäuler über die Kompliziertheit der Welt, die zerfetzten Leiber aber sagen jene nackte Wahrheit, in der die Leitartikler so hilflos erscheinen.

Jetzt hat Lanoye »Königin Lear« geschrieben, deutschsprachige Erstaufführung war am Schauspiel Frankfurt am Main (Regie: Kay Voges). Die Bühne von Daniel Roskamp besteht aus einem flirrenden Guckkasten, einer Rück- und Seitenwandgeometrie aus unzähligen Lichtgittern. In dieser abstrakten Welt: ein Scherbengericht - die Splitter wetteifern mit scharfen Kanten. Zunächst aber durchaus so etwas wie Schönheit. Das ist hier der souveräne Befehlston, die mondäne Sonnenbrille, und geschwungene Lippen, die aber auch auf den schmalen Strich der Verachtung gehen können. Die Schönheit der Herrschaft ist hier - die Schönheit einer Frau. Eine moderne Schönheit, also kommt ihre Rede kalt vom Video. Königin Lear spricht zu ihren drei Söhnen. Taff, aber: zwischen den Peitschentönen der Entschiedenheit ein krankes Hüsteln - eine Vorzeichensetzung.

Elisabeth Lear vererbt ihr weltumspannendes Finanz- und Öl- und High-Tech-Imperium. Sie ist die gefährliche Illusionistin, die eine Zentralmacht abgibt, an die sie doch, gierselig und dominanzverseucht, weiter gefesselt bleiben wird. Eine Starrsinnige, die nur gut sein kann, wenn dafür ein triefender Lobgesang ertönt - und die deshalb ihren Jüngsten, Cornald, verstößt. Weil der zwar lieben, aber nicht heucheln kann.

Lanoye hat dem Theater mit seiner Königin eine packende reife Weibsgröße geschaffen; er hat das archaische Unglücksspiel ins globale Feld kapitalistischer Enthemmung versetzt - Banker und Börsen, Konzentration und Crash, der spekulative Geldstrom als zeitgenössische Sintflut. Und: Er hat dies Königsdrama um Besitzfraß und Lageverkennung just einer Mutter aufgebürdet - was die Tragödie des Ehrgeizes so ungemein verschärft. Königin Lear bereichert jene Diktatur der Matronen, für die auch Lorcas Bernarda Alba, Brechts Mutter Courage, Gorkis Wassa Shelesnowa stehen.

Josefin Platt in der Titelrolle. Die Imperial-Ikone und ihre genießerische Starrköpfigkeit. Eine machtpolitisch Emanzipierte, die erst im Unbill einer sich steigernden Demenz zur Königin der Weisheit wird: zum hemdnackten Menschen mit Papierkrönchen und einer Sonnenblume als Zepter. Erst die Umnachtete ist eine Erhellte: als träumte der Eiszapfen plötzlich von einem Leben als Sonnenstrahl. Diese Frau, mag sie noch so clever sein, begreift sich als »der Neger der Geschichte«. Und Shakespeares Narr ist hier ein russischer Pfleger (Owen Peter Read), der mit gelassener Männlichkeit auch Lears Lustschüben und also ihren nackten Brüsten zu Diensten geht.

Rund um Lear entwickelt die Inszenierung nichts, sie ist Setzung. Sie exekutiert. Eine Knochenmühle, alles quälerische Fleisch fiel längst ab. Dies nimmt vor allem den bösen Söhnen Lears (Viktor Tremmel, Lukas Rüppel) und deren Gattinnen (Verena Bukal, Franziska Junge) charakterliche Konturen - das ist im Grunde schon bei Shakespeare nicht anders. Aber alle Darsteller überzeugen mit einem jeweilig speziellen Anteil an fläziger Dummheit, träg-trunkener Wesenlosigkeit, trocken-tumber Bosheit, geiler Wohlstandslust, stumpfer Brutalität.

Jedes Gefühl ist hier eine Falltür. Dünne, neonzerschnittene Luft, in der viel Angst hängt. Leiber unter Hochdruck. Krampfhaft aufrecht oder niedergepresst. Familie? Jagdbrüder und Bruderjäger. Aus der Niedertracht der Söhne wächst deren Kleiderordnung: mafiotische Sonnenbrille, das weiße Hemd der dreckigen Saubermänner, der Militärmantel, der einer ökonomischen Diktatur das Paradezeichen gibt.

Peter Schröder spielt den Kent, Lears »rechte Hand«, eine so lederne wie restsensible Organisationsnatur, die das Grundgebot der Markterfolge durchsetzt: die Korruption als Moral und den Betrug als Fairness zu etablieren. Die Felsenklippe Dovers, wo bei Shakespeare der alte Gloster in den Tod springen will, ist hier das Dachplateau eines Wolkenkratzers, auf dem Kent herumwankt; einer der Lear-Söhne hat ihm die Augen eingedrückt. Für den Showdown dann kehrt der verstoßene Cornald zurück, gescheitert an einem maßvollen Kapitalismusversuch in der Dritten Welt - einer seiner Brüder wird ihn vom Hochhausdach stoßen. Carina Zichner spielt diesen Jüngsten der Familie mit knäbischer Fremdheit.

Das Bedrängende an Stück und Aufführung ist das unsichtbare, aber grauenhafte Grinsen des Systems, das noch seine bestverdienenden Sklaven als Blinde offenbart, denen es an nichts fehlt, an Durchblick sehr wohl. Als seien sie an die Foltermaschine in Kafkas »Strafkolonie« gefesselt. Ein greifendes Bild: Jedes der unzähligen Lichtgitterkästchen wird plötzlich eine TV-Nachrichtensequenz (Video: Robi Voigt), eine Welt aus unübersichtlich vielen simultanen Bildpartikeln; Krieg, Statement, Flucht, Attentat, Protest, Polizei, Blut - Überwältigung durch Reizbeschuss. Augen zu! - vor dem, was ist.

Königin Lear: ein Absturz auf Hochebene. Aber es existiert im unterschwelligen Assoziationsfeld dieser Inszenierung eine Einsicht in die verfluchenswerte Unteilbarkeit der Welt, die noch den kleinsten westlichen Lebensgenuss auf den großen Schuldschein schreibt. Der Kapitalismus hat in uns gesiegt: Noch wer gegen ihn kämpft, kräftigt jenes Prinzip der Konkurrenz, das ihn am Leben erhält. Der Feind wurde Struktur, deren Teil man selber ist. Die bodenlose Unlust an Gesellschaft als letztverbliebenes Verhaltensradikal?

Platts Königin war nicht in der Heide, sondern im zugigen Moloch der Riesenstadt umhergeirrt, das Verwackeln der Lichtgitter erzeugt die Illusion eines vibrierenden, haltlosen, zuckenden Universums. Und über der blutigen Leiche ihres zerschmetterten Cornald erhält diese Frau mit einem Mal eine schreiende Tiefe, die kein Grab erschließen wird: eine alte Zeitreisende nunmehr, vom Anfang der Welt. So sieht sie aus: jene Gnade, sich als das zu erkennen, was man auf Erden ist - ein Niemandsgast. Große schattentiefe Augen, glücklichtraurige Entrücktheit - Lear im Verwittern: Über dieses Gesicht zieht letztlich alles Entfleischte und Entgleiste einer verdämmernden, verdeppernden Kreatur. Ein Sog: Wucht und Wimmern.

Selbstfindung. Klingt gut. Aber ehrlich: Man findet dieses Selbst nicht, nein, man stürzt, sich erkennend, in ein inneres Unding, in eine subjektive Galaxie. Königins Lehre für alle Lagen: Wer eben fürstlich lachte, liegt baldigst in der Lache; wer eben siegessicher schrie, ist vielleicht bald schon verschrien. Wir wissen nichts, ehe wir nicht dafür bezahlt haben. Starker Beifall, tosender gar für Josefin Platt.

Nächste Vorstellungen: 28., 29. September; 7.,17., 26. Oktober

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