Ein Sprachstück für die Kammerbühne

David Vann ist auch in seinem neuen Roman »Aquarium« auf Zuspitzung aus

  • Ralph Grüneberger
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein großartiger Erzähler, der mit wenigen Strichen seinen Figuren eine Herkunft gibt: So zeigt sich der US-amerikanische Autor David Vann auch in seinem Roman »Aquarium«. Wiederum erleben wir in einer von Mariam Mandelkow trefflich ins Deutsche gebrachten Sprache einen Meister der Menschen-, Natur- und Situationsschilderung.

Die erzählte Zeit währt nur wenige Tage. Weihnachten, das Familienfest schlechthin, steht bevor. Und das Mädchen Caitlin, das in Seattle eine Art Freie Schule besucht, verbringt ihre Nachmittage im Aquarium des Zoologischen Gartens der Stadt. Die Jahreskarte für den täglichen Zutritt ist im Grunde der einzige Luxus, der ihr vergönnt ist. Mit ihrer Mutter lebt die Zwölfjährige in einem heruntergekommenen Stadtviertel. Sheri Thompson, die sich in Vollzeit als Transportarbeiterin am Hafen verdingt und Überstunden schrubbt, soviel sie bekommt, hat bei der Einschulung von Caitlin als Adresse die Anschrift eines besseren Stadtteils angegeben, um ihrer Tochter die Aufnahme in dieser Schule überhaupt zu ermöglichen.

Noch ist die Schule mehr Spiel, mehr Beschäftigung, mehr Aufenthaltsort für Caitlin. Der sogenannte Ernst des Lebens bricht über die Schülerin außerhalb des Schulhauses herein. Im Aquarium ist ihr ein älterer Mann begegnet, mit dem sie sich mehr und mehr anfreundet. Ja, auf den sie wartet, und von dem sie erwartet wird. Gemeinsam studieren sie das Verhalten der Fische. Doch dieser Konstellation ist in unserer von Gefahr, Entfremdung und Voreingenommenheit bestimmten Gesellschaft das Unheil immanent. Wir wissen sofort, das kann nicht gutgehen. Und tatsächlich mobilisiert Caitlins Mutter die Polizei.

Als diese den alten Mann, der in einem Moment der Anteilnahme Caitlin umarmt und getröstet hat, befragt, ob es sich dem Kind unsittlich genähert habe, bekennt dieser, Caitlins Großvater zu sein, was den Leser nicht wirklich überrascht. Das Mädchen ist danach völlig verwirrt. Aber mehr noch Sheri, ihre Mutter. Sie kollabiert förmlich bei dem Gedanken, ihr Vater, der ihre todkranke Mutter und sie, als Heranwachsende, Hals über Kopf verlassen hat, könne nun - und das passend zur Weihnachtszeit - »einen auf heile Familie machen«. Brachial wehrt sich Sheri gegen den Versuch ihrer Tochter, die auch Unterstützung von Steve, dem neuen Freund der Mutter, erfährt, den »Grandpa« zu integrieren.

Deutlich wird dabei, wie sehr es sich Caitlin wünscht, mehr als nur einen »Elternteil«, ja am liebsten eine richtige Familie zu haben. Mutter und Tochter könnten mit einem Mal aller Sorgen ledig sein. Der Großvater, ein berenteter Mechaniker mit sogenannten goldenen Händen, hat sich inmitten gesichtsloser Hauszeilen ein bauliches Kleinod geschaffen. Liebend gern zöge er ins kleinste Zimmer seines Hauses, um nur Kind und Kindeskind um sich zu haben.

Um jenen, denen das Lesevergnügen noch bevorsteht, nicht die Spannung zu nehmen, sei das Ungeheuerliche, was jetzt folgt, ausgespart. Das Wort von der Familie als kleinster Zelle der Gesellschaft wird von Vann in schmerzhafte Lektüre verwandelt, die einen kaum vergessen lässt, was Menschen einander anzutun vermögen, ohne dass dies den Bereich des Strafrechts tangiert.

»Aquarium« ist ein Versöhnungsroman, der diese elementare menschliche Tugend sinnfällig macht. Wie immer ist Vann auf Zuspitzung aus, auf das Konzentrat von Mitmenschlichkeit und Schönheit, auf das Überwältigende, das ohne Gewalt nicht auskommt. Gleich am Anfang schafft er eine kleine Irritation, einen ersten Kontrapunkt, indem er erst nach ein paar Seiten auflöst, dass es nicht die wirklich sehr »erwachsenen« Äußerungen einer Zwölfjährigen sind, die aus Caitlins Mund kommen, sondern diese als gut Dreißigjährige das Erlebte Revue passieren lässt. Später zieht er dann alle Register, um das Orgelwerk seiner Sprache zum Klingen und Ausklingen zu bringen.

David Vann: Aquarium. Roman. Aus dem Amerikanischen von Mariam Mandelkow. Suhrkamp Verlag. 282 S., geb., 22,95 €.

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