Schwanzparade der Gespenster

Im ZDF-Achtteiler »Chabos« dürfen Jungmänner der Nullerjahre ihre ganze Doofheit präsentieren

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Sind alle Rechner heil angekommen? Dann kann die Lan-Party losgehen.
Sind alle Rechner heil angekommen? Dann kann die Lan-Party losgehen.

Die Trigger-Warnung ist ein junges Instrument der psychosozialen Film- und Fernsehhygiene. Damit wunde Seelen nicht retraumatisiert werden, warnen Sender, Portale, Kinos gelegentlich vor unsensiblem Inhalt. Und wenn das ZDF zu Beginn der Neo-Serie »Chabos« auf »Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung« hinweist, die man »aus Gründen der Authentizität« so wiedergebe, »wie sie damals stattgefunden haben«, ist das auch absolut angebracht.

Damals sind in dem Fall schließlich die frühen Nullerjahre. Denn damals haben toxische Typen wie PD, Spitznamenkürzel für Polendeutscher, mit Worten von Schw****** bis F**** um sich geworfen und waren auch sonst politisch ungefähr korrekt wie ein AfD-Chatroom. Damals herrschten also noch Umgangsformen, die heute nicht nur Compliance-Beauftrage auf den Plan riefen. Mit etwas chaostheoretischer Energie führte ein solches Mindset auch vor 19 Jahren schnurstracks in die Katastrophe. Und das geht so.

»Unser Humor bestand aus Frauen-, Schwulen- und Ausländerwitzen«, räumt Peppi ein und bittet um Milde. Denn jetzt sei er anders.

Weil der 16-jährige PD (Jonathan Kriener) und seine besten (da einzigen) Freunde Peppi (Nico Marischka) und Alba (Arsseni Bultmann) nicht in die Duisburger Disco kommen, bitten sie den gleichaltrigen Computer-Nerd Gollum (Loran Alhasan), einen Horrorfilm aus diesem neuen Dings namens Internet zu ziehen. Damit öffnet er jedoch das Tor zu einer Eskalationsspirale, in der es auch deshalb rasant abwärts geht, weil PD ausnahmslos idiotische Ideen hat, um wieder herauszukommen. Eine davon lautet zum Beispiel: Nacktbilder von Gollums Schwarm Pinar (Bahar Balci) zu verkaufen.

Wohin das führt, zeigt der mittlerweile gealterte Peppi (Johannes Kienast) gleich zu Beginn der ersten von acht Folgen. Sein Leben als Angestellter eines Start-ups für Kühlschrank-KI ist ohnehin gescheitert. Als der Mittdreißiger dann aber auch noch erfährt, dass ihn keiner zum Klassentreffen eingeladen hat, fährt er auf Ursachenforschungsreise heim nach Duisburg – und trifft dort die Geister seiner Vergangenheit. Zum Auftakt: PD, grandios verkörpert von David Schütter.

Schon 2006 ein selbstgerechtes Großmaul, das auf Schwächeren rumhackt, aber vorm gewalttätigen Vater kuscht, ist er 2025 Polizist. Was sonst, fragt sich Peppi laut, als er gedanklich ins Sommermärchenjahr reist. »Denn wo kann man als Erwachsener Macht und Sadismus ausleben und dabei noch Geld verdienen? Richtig!« Nach eigenem Drehbuch erzählen uns die beiden Regisseure Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch fortan auf zwei fröhlich verquirlten Zeitachsen voller popkultureller Zitate hinweg, wie Millennials zu dem wurden, was sie heute sind.

Wenn uns Peppi dabei ständig durch die vierte Wand direkt in die Kamera erklärt, wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander verdrahtet sind, ist das allerdings nicht nur ein erzählerisch origineller Trip in die Nullerjahre, als Telefone noch mannshohe Zellen statt Touchscreens hatten und der Download digitaler Filme drei Stunden dauerte. Mit »Chabos« entführt er uns auch achtmal 30 Minuten ins Präkambrium einer gleichberechtigungsfreien Welt. Frauen kommen darin zwar durchaus vor.

Anke Engelke etwa spielt Peppis unglücklich verheiratete Mutter mit ähnlich wuchtiger Präsenz wie Arina Prass seine erste Freundin Mascha und Paula Kober die erwachsene Pinar. Generell aber stehen weibliche Figuren stets im Schlagschatten männlicher Figuren. Diese sind es, die der Handlung Struktur geben. Um ihre Marotten und Fehler dreht sich nahezu jeder Scherz dieser irrwitzigen Schwanzparade längst vergangener, gespenstisch naher Tage.

Da wirkt es wie ein selbstironisches Schuldeingeständnis, dass Peppi beim Abwasch mit seinem Schwager den Bechdel-Test zur Prüfung der Eigenständigkeit weiblicher Filmfiguren auf vorherige »Chabos«-Szenen anwendet und die Kamera sodann auf sieben männliche Crew-Mitglieder schwenkt. Vielleicht ist es aber auch einfach nur ehrlich, eine Tragikomödie über die letzten Zuckungen des Patriarchats aus dessen Sicht zu erzählen.

»Unser Humor bestand aus Frauen-, Schwulen- und Ausländerwitzen«, räumt Peppi ein und bittet um Milde. Denn jetzt sei er anders. »Und es gibt keinen Grund, mich nicht einzuladen.« Von wegen. Weil es nicht nur einen, sondern mehrere gute Gründe gab, stehen am Ende – so viel sei verraten – nahezu ausnahmslos Frauen auf der Sonnenseite. Das macht »Chabos« noch nicht zu einer feministischen Serie. Aber sie schafft es, den Kampf um Gleichberechtigung vor 20 Jahren trotz leichtem Qualitätsabfall in der zweiten Hälfte nicht nur unterhaltsam zu erzählen. Sondern gehaltvoll.

Die ersten drei Folgen »Chabos« laufen am Sonntag ab 20.15 Uhr auf ZDF Neo. In der ZDF-Mediathek sind alle Folgen bereits abrufbar.

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