Wucht am laufenden Band

»Die Räuber« von Friedrich Schiller am Residenztheater München

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Zorn? Das ist keine attraktive Sendbotengröße mehr, und Friedrich Schiller ist kein Revolutionsdichter. Also akuter denn je. Der Zorn torkelt heutzutage wie eine vergessene Sehnsucht durch die politischen Zustände dieser Welt. Er ist ein sperriges Erinnerungsstück in den restradikalen Gesinnungen, die belehrt zur Ruhe kamen - oder höchstens noch in trotzigen Seminaristenhirnen spuken. Wo der Zorn noch wirklich auftritt, tritt er als Desperado auf, als Sprengmeister einer verfluchten Zunft, die Flugzeuge in Häuser lenkt und Bomben zündet. Es wurde düster und neblig in den Arsenalen des Aufstandes.

Deshalb ist die Bühne eine Finsternis, in ihr vier gigantische schräg gestellte, schwenkbare Laufbänder auf zwei Stahlträgern. Als hätten Schaufelbagger der schmutzigen Geschichte ihre Dienste geliehen: Was durch Aufruhr, durch Revolution zutage gefördert wird, ist am Ende Abraum, ist Erdreich ärmster Art - es füllt leider nur Gräber. Hier sehen wir’s: Immer ist der Mensch, wo er seine kollektive Kraft offenbart, auch der Erbärmlichste - im Hecheln und Stampfen auf dem Förderband der Verhältnisse. Hilflos gegen die aufgezwungene Laufrichtung. Denen, die hier gegen die Welt gehen, kommt die Welt entgegen: Sie scheint in jedem herausgeschrienen Wort unterzugehen. Wie die Gestalten da laufen und laufen und laufen (müssen!), auf und ab, da durchschießen dich die Assoziationen: Mühen der Ebenen, Hauptstraße der Weltgeschichte, Gipfelsturm, Abstieg in die Hölle.

Ulrich Rasche hat am Residenztheater München Schillers Sturm-und-Drang-Werk »Die Räuber« inszeniert. Karl Moor, der feurige Student, fühlt sich von seinem Vater verstoßen, ist Opfer einer Bruderintrige, verzehrt sich nach Amalie und wird sie, zynisch zerwühlt, am Ende vernichten. Wie sich selber. In Böhmens Wäldern avanciert er zum Bandenchef für die Bedürftigen. Um sich herum freilich auch Kumpane, die nur bedürftig nach Blut und brennenden Kindern sind. Karl mag auf dem Laufband noch so die Freiheit bebrüllen: Man hängt hier - um auf der Bühne nicht zu verunglücken - an einem Sicherheitsgurt. Trefflicher Gegenwartsverweis, man kennt doch diese Leute: Der antikapitalistische Radikalschwätzer ist allianzversichert; der forsche Deutschlandhasser und Schwarzblockversteher hat seinen Internationalismus, hat sein Barrikadlein wohlig eingerichtet auf den verlässlich schützenden Bizeps hiesiger Verhältnisse. Galle mit Gurtpflicht!

Die Räuber: Schwarzmantel, Patronengurt um die Hüfte. Die Bänder rollen, der Text rumort, das Spiel wuchtet, keiner schaut den anderen an, keiner berührt den anderen, volle Kraft voraus auf immergleicher Stelle, das Schauspiel schmettert sich hinüber in die gebrüllte Oper. Du hörst Sprache, als hörtest du Schüsse. Lautsprecher verstärken alles. Tontechnik lässt den Text schier von allen Seiten auf uns niedergeistern, niederknallen. Und dieser Text bleibt doch klar und gestochen scharf. Die menschliche Stimme als Ausdruckskraft einer Apparatur. So, wie Weltveränderer regelmäßig und zwangsläufig zu Apparatschiks der Zwangsbeglückung wurden.

Psychologie tot, Individualität tot, Schiller auch, aber sein Geist: getroffen, also nervend nah. Chorische Energie, chorischer Überfall wie einst bei Einar Schleef. »Faschismus-Scheiße«, warf ihm der Regisseur Peter Zadek damals böse hin. Riefenstahlgewitter? Ja, gut so! Eine Lektion in Verführungstechnik, ein Blutwallungstest: Erschrick erschauernd vor dem, was dich mitreißt. Gleißen und Gleichschritt. Mannhaft - das ist keine Gefängnisstrafe, das ist der allwaltende Geschäftstrieb der Militanz. Sieh nur, die schweißglänzenden Körper, die Brustmuskeln der Räuber: ausgeleuchtet, als sei Arnold Breker der Lichtregisseur.

Die Rebellion als rampennaher Selbstlauf einer eingeschalteten Motorik, die ihren Zweck vergessen hat. Nicht vergleichbar etwa mit Revolten von früher. »Macht kaputt, was euch kaputt macht.« Ton Steine Scherben. Der Ton und die Steine - einst erhoben, um das System in Scherben zu sehen, nicht nur Schaufenster. Das war noch Rebellion gegen die Struktur. Man zerstörte Autos, ja, aber zugleich wollte man doch herrschende Politik zerstören. Die Illusion von revolutionierter Zukunft war es, der plötzlich die Armmuskeln schwollen für den gezielten Steinwurf. Vorbei. Unterm Pflasterstein liegt nicht mehr das Meer, nur Sartres Grab. Längst werden nur noch Autos zerstört. Dahinter ist nichts mehr. Wo rebelliert wird, sind es Aufständchen ohne wirkliches politisches Bewusstsein.

Der Zerstörungsakt selber ist das einzige, was man in eine Zukunft verlängert - die keine Änderung der Zustände schaffen wird, sondern nur neue, bessere Generationen von Autos. Vorbei die Utopie vom massenhaft verzauberten Denken für die eine Revolution, in der die Gattung, wie neugeboren, staunend vor sich selber stünde. Es wird das Problem einer Müsli essenden, parlamentarisch integrierten Linken sein, wie sie ihre aktive Solidarität mit aggressiven Entwurzelten und die demokratische Disziplin verbinden kann. Bündnisse als Bedürfnis, nicht als taktisches Manöver? Schwere Übung.

Es ist ein bedrängend sportiver Abend. Ein Körperkonzentrationsmarathon. Für die Darsteller eine Pausenverweigerungsfolter. Eine gnadenlose Reihenuntersuchung: Wer hält es aus, hier nicht auszubrechen? Ausbruch freilich wäre Absturz (vom Laufband). Zweiergruppen, Dreiergruppen, schließlich zwei Massen im Marsch gegeneinander. Zum hirnbohrenden Exerzitium dieser Meute die Musik von Ari Benjamin Meyers, der Zauber zweier Streicherinnen, eines Perkussionisten, eines Bassisten sowie dreier Sänger: das Wesen all der militärischen Gemüter, denen die Stiefel bis ins Hirn knallen, live übersetzt in eine melodiöse Monotonie, die sich geradezu in Höhen schraubt, die gleißend berauscht wie das Licht, die ins Ohrenbetäubende schießt, um plötzlich abzubrechen: und in die Stille hinein, unerwartet, das Wort Mensch.

Mensch: Einsamkeit inmitten. Vielleicht war dem, der sich inbrünstig in eine kämpfende Masse warf, lediglich zu lange eine Herzenswärme verweigert worden? Das Heroische kann aus sehr privatem Korn wachsen, und das Böse verteidigt sich nicht selten mit dem Satz, man habe es doch nur gut gemeint.

Götz Schulte gibt den alten Grafen Moor wie eine müde Glut, die nach Löschwasser lechzt. Nora Buzalkas Amalia bewahrt sich in dieser reißerischen Kaltfront eine schöne weibliche Unergründlichkeit. Thomas Lettows Spiegelberg: so saufies, so söldnerisch abstoßend wie auch faszinierend. Franz Pätzold als Karl zeigt das Psychogramm eines Kippschalters: von der Schwärmerei zum Schwerverbrecher, vom Romantiker zum rünstigen Randalierer. Und Valery Tscheplanowa spielt den Franz, eine leichte Krümmung nur, die Arme etwas abgespreizt, schon leuchtet sie ein, die Schwierigkeit, aufrecht durchs Leben zu gehen. Sie alle leben diese eine Wahrheit: Verstoßene Liebe entwickelt einen Appetit, den kein Unglück sättigen wird.

Karl Moor und seine Räuber. Als wollten sie aus Schiller hinüber zu Büchner, zu »Dantons Tod«. Als suchten sie nach Begriffen von heute. Texthilfe kommt vom Manifest »Der kommende Aufstand«. Es ist jenes Pamphlet, das als links gilt und - Ironie der Geschichte! - längst auch rechts gedacht wird. »Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist.« Die Inszenierung macht mit Furor Angst vor jedem Extrem, vor jedem Autonomen-Sekte, vor jedem »Aktivisten« des antizivilen Zunders, vor jedem Leiden, das zur Wollust der Wilderei wird. Um bloß nicht zu spüren, dass man womöglich bloß eine kleine Seele ist im großen Rotz der Welt.

Ulrich Rasche inszeniert sein Goethe-Verständnis. Der wird im Programmheft zitiert: »Wäre ich Gott gewesen, im Begriff die Welt zu erschaffen, und ich hätte in dem Augenblick vorausgesehen, dass Schillers ›Räuber‹ darin geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.« Goethe - passend zu Sloterdijk: »Das gegenwärtige Zeitalter wälzt die Dinge, die Themen nicht um: es walzt sie aus. Es übersetzt Träume in gewalttätige Gebrauchsanweisungen.« Wo dem vermeintlichen Gebot der Geschichte zum Durchbruch verholfen wird - da darf gesäubert, selektiert, vertrieben, hingerichtet werden? Ohne dass sich die Täter selber etwas anderes als Pflichtgefühl und Auftragsdisziplin unterstellen müssen? Nein danke. Und ein ungebrochenes Bravo für diesen atemberaubend dröhnenden Theaterabend!

Nächste Vorstellung: 1. November

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