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Sehnsucht nach Anfang

Jutta Voigt gelang mit »Stierblutjahre« eine Kulturgeschichte des Ostens

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Boheme, das sind immer die aus derWelt der Nützlichkeiten vertriebenen Tagträumer. Es sind Inselbewohner. Nicht erst bei Jutta Voigt in ihrem Ost-Berliner Erinnerungsbuch »Stierblutjahre«. Denn »stierblütig«, wussten die Eingeweihten, wurde man mutiger, als man eigentlich ist. »Eger Stierblut« war einer der noch halbwegs trinkbaren Rotweine aus dem »Konsum« im Rotweinnotstandsgebiet DDR. Besser gewiss als bulgarisches »Bärenblut« oder algerische Rotweinverschnitte wie »Grand Cuvé« aus Neubrandenburg, doch dem rumänischen »Pinot noir« durchaus gleichrangig.


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* Jutta Voigt: Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens. Aufbau Verlag. 288 S., zahlr. Abb., geb., 19,95 €.


Aber nicht nur um Wein geht es in der feuilletonistischen Rückschau von Jutta Voigt. Es geht auch nicht nur allein um die DDR-Zeit im Prenzlauer Berg, sondern um deren poetisch schillernden Nachklang in der unmittelbaren Nachwendezeit bis etwa ins Jahr 2000. Dann endete die Ära des Arbeiter- und Szenebezirks Prenzlauer Berg: »Im Hintergrund des Undergrounds lauerte schon der Verrat, der Goldrausch.« Nach der langen Party wandte man sich irgendwann schwäbischen Tugenden zu, die heute hier herrschen: »Die Kinder des Kapitalismus trugen ein Gen in sich, das sich nach kurzer Irritation zurückmeldete - das Eigentumsgen.«

Welch besondere Melange aus Aufsteigern und Absteigern, von Übriggebliebenen und Abenteurern! Jutta Voigt porträtiert sie im Augenblick ihres Verschwindens, wo alles noch einmal ins Rot der untergehenden Sonne getaucht ist. So wie im »Lampion«, jenem bis 2003 existierenden Café, das ein kulturelles Biotop der besonderen Art war.

Inzwischen ist die Autorin selbst fünfundsiebzig Jahre alt und kommt sich gelegentlich vor wie die letzte Überlebende einer ausgestorbenen Spezies: jenes Typus Intellektueller und Künstler, der nicht lebte, um zu arbeiten, Geld zu verdienen und Karriere zu machen - sondern um das Leben zu genießen. Womit nicht teure Fernreisen und Eigentumswohnungen gemeint sind, sondern die Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlichster Art, die man in jenen Bars und Cafés traf, in denen Jutta Voigt offenbar - neben ihrer Tätigkeit als Journalistin erst für den »Sonntag«, dann für »Wochenpost«, »Woche« und »Zeit« - immer am liebsten war. Sie ist eine Menschenfischerin in Sinne Nietzsches, kommt mit jedem ins Gespräch. Überall sucht sie nach Geschichten aus dem einfachen Leben.

Das Boheme-Thema ist für die studierte Philosophin eines mit kulturellem Tiefgang, und so weitet sich der Text immer mehr zur Kulturgeschichte des Ostens. Man hat dabei Charles Aznavour im Ohr mit seinem Lied »La Boheme«: »Es ist schon lange her, ihr kennt die Zeit nicht mehr mit euren zwanzig Jahren ...« Es ist ein Erinnern an einstige Aufbrüche - nicht ohne Melancholie. Was überhaupt ist eine Boheme? In Puccinis gleichnamiger Oper hustet sich Mimi zu Tode; das Leben der Boheme ist hart und kümmerlich. Man kennt es von Else Lasker-Schüler oder Peter Hille. Und doch, man arbeitete durchaus hart an der Verwirklichung seiner Träume. Die einen wurden dann - oft postum - berühmt, die anderen vergessen.

Jutta Voigts »Lampion«-Report am Anfang des Buches versammelt jene, die ihre Aufbrüche schon hinter sich hatten und durch die Wende wieder ganz am Anfang standen. Oder eben vor dem endgültigen Ende. Wann ist ein Mensch - oder auch eine ganze Gesellschaft - schöpferisch, also mehr als ein Verkäufer seiner selbst? Für Jutta Voigt nur so lange »das Chaos nicht aufgebraucht« ist. »Boheme ist das Leben ohne Plan, aber mit Sehnsucht; es könnte alles anders werden oder nichts.«

Dem roten Faden des Eigensinns folgend, geht »Stierblutjahre« zurück in die viel versprechenden Jahre der frühen Sechziger, die dann in umso tieferer Resignation endeten - und immer sind es ganz persönliche Erinnerungen. Man steht mit ihr an der Bar, und sie schlägt über Jahrzehnte hinweg Bögen, die nach dem besonderen Aroma von Existenz suchen, das sich verliert, wenn niemand mehr die gleichen Träume träumt. »Die Möwe«, das »Wiener Café« oder »Clärchens Ballhaus« sind die eigentlichen Wohnstuben Jutta Voigts gewesen: der Pariser Salon auf ostberlinisch, ein soziales Labor, zudem Ort der unwahrscheinlichsten Geschichten. Von Lothar Trolle bis zu Wolfgang Kohlhaase, von Peter Hacks bis Peter Wawerzinek, es ist ein Personal, das man glaubte zu kennen, aber vom »Lampion« beleuchtet, wirft es plötzlich lange Schatten.

Zum Schluss dieses Rundgangs durch den Berliner Osten, der eine hinreißende Zeitreise durch Hinterzimmer aller Art ist, beendet die Autorin ihre »Stierblutjahre« folgerichtig an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: »Ist Frank Castorf ein Bohemien? Wer weiß. Sein Abschied von der Volksbühne aber ist ein später Abschied der Boheme des Ostens. Und der des Ostberliner Nachwende-Westens - jener Phase der fröhlichen Anarchie, wo jeder ein Künstler, ein Galerist, ein DJ, wo jeder ein Bohemien war in der schmutzigschönen Welt aus Einschusslöchern, Mauerresten und den Versprechungen eines anderen Lebens.«

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