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Menschheit am Wendepunkt

Renée Schroeder auf den Spuren der Evolution

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor etwa 70 000 Jahren, so vermuten Historiker, war der Mensch zum ersten Mal in der Lage, Dinge zu denken, die real nicht existieren. Damit begann das, was man heute im engeren Sinne Kultur oder genauer kulturelle Evolution nennt. Denn viele der nur gedachten Dinge wurden, ob als Mythen oder Innovationen, zu prägenden Bestandteilen unseres Lebens.


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* Renée Schroeder: Die Erfindung des Menschen. Wie wir die Evolution überlisten. Residenz. 221 S., geb., 22 €.


In ihrem Buch »Die Erfindung des Menschen« zeichnet die österreichische Biochemikerin Renée Schroeder diesen historischen Prozess nach, der, wie sie meint, an einem Wendepunkt angekommen sei: »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Evolution sich um das Überleben der Menschheit kümmern wird. Das müssen wir schon selber tun.« Dank der Möglichkeiten der Gentechnik hat der Mensch tatsächlich die Fähigkeit erworben, seine eigene biologische Verfasstheit zu verändern. Der neueste Schrei auf diesem Gebiet ist eine Methode mit dem unaussprechlichen Namen CRISPR/Cas9, die es möglich macht, gezielt in das menschliche Erbgut einzugreifen - unter anderem mit dem Ziel, schwere Krankheiten wie Krebs oder Aids zu heilen.

Um den Leserinnen und Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie biologische Evolution funktioniert, beschreibt Schroeder detailliert, wie sich auf der Erde aus einfachen Molekülen komplexe Lebensformen entwickelt haben, zu denen letztlich auch der Mensch gehört. In diesen Kapiteln des Buches kann die in Brasilien geborene und heute in Wien lebende Biochemikerin ihre Fachkompetenz voll zur Geltung bringen. Namentlich ihre Darstellung des häufig missverstandenen Zusammenhangs von Genetik und Epigenetik, in dem auch die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaft eingeschlossen ist, lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig.

Gleiches gilt für die Beschreibung des Anthropozäns. So bezeichnen Wissenschaftler das gegenwärtige Erdzeitalter, in dem die Aktivitäten des Menschen Spuren in den Gesteinsschichten hinterlassen, die sich vermutlich noch in Jahrmillionen werden nachweisen lassen, von wem dann auch immer.

All diese Teile des Buches sind, wenn man so will, eine Art Vorspiel zu einem wahrhaft ehrgeizigen Unternehmen, für welches Schroeder das griffige Schlagwort von der »Aufklärung 2.0« verwendet. »In meinen Augen ist Aufklärung die einzige Möglichkeit, auf Dauer in dieser Welt zu bestehen.« Wer wollte hier widersprechen. Doch was ist der Kern einer neuen Aufklärung? Hierzu schreibt die Autorin: »Es ist der Versuch, die Welt zu verstehen, um sich besser anpassen zu können oder um sich die richtigen Nischen zu bauen.« Und an anderer Stelle heißt es, dass der Umgang mit der »überfordernden Flut an Informationen« der Kern der zweiten Aufklärung sei. Konkrete Aussagen hierzu finden sich leider nur spärlich. Aber zur Ehrenrettung Schroeders sei hinzugefügt, dass auch andere Autoren in diesem Kontext oftmals mehr versprechen als sie halten können. Die Erkenntnisse der modernen Biowissenschaften sachkundig zu vermitteln, ist zweifellos eine lohnende Bildungsaufgabe. Denn die biologischen Bedürfnisse des Menschen werden auch in einer künftigen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Ob man für deren Gestaltung aber gleich die Evolution überlisten muss, wie es der Untertitel des Buches nahelegt, bleibt abzuwarten.

Wer sich heute um das Schicksal der Menschheit sorgt (und Gründe dafür gibt es wahrlich genug), sollte seinen Blick vor allem auf die Dynamik sozialer, politischer und ökonomischer Veränderungen richten. Schroeder tut dies ansatzweise in einem Kapitel über den Feminismus, dessen Bedeutung für ein evolutionär-demokratisches Zukunftsprojekt der Gesellschaft noch immer unterschätzt wird, selbst von Leuten, die sich politisch links verorten.

Im Vorwort ihres Buches schreibt die Autorin selbstbewusst: »Ich kann Ihnen versprechen: Sie werden es nicht bereuen, dieses Buch in die Hände genommen zu haben.« Dem ist insofern zuzustimmen, als der Leser darin auf anregende Weise mit neuen und weltbildprägenden Erkenntnissen der Biologie vertraut gemacht wird. Doch Schroeder will mehr. Sie wünscht sich, dass jeder, der das Buch zu Ende gelesen hat, »eine wohltuende und allgemeine Leichtigkeit« verspürt und begreift, was der Stellenwert des Menschen im Universum ist. Ich muss gestehen, dass ich aus dem Buch viel gelernt habe. Andere Leser werden zudem vielleicht noch mehr Leichtigkeit verspüren.

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