Aus Bessarabien durch halb Europa

Eduard Braun blickt zurück

  • Ulrich Völkel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer weiß schon, wo Bessarabien liegt? Mit der arabischen Halbinsel hat es nichts zu tun. Es ist ein Gebiet in der heutigen Ukraine zwischen den Flüssen Pruth und Dnister bis ans Schwarze Meer reichend. Dort gab es ein Fürstengeschlecht Bassarab. Das kann man googeln. Aber wie lebten oder leben die Menschen in diesem Landstrich? Das kann man nachlesen in Eduard Brauns eindrucksvollem Buch »Kindheit ohne Heimat«.

Braun blickt weit zurück. Er hat die 80 bereits überschritten und nach einem langen, aufreibenden Berufsleben endlich Zeit, sich an seine Kindheit und eine unstete Wanderung durch halb Europa zu erinnern. Geboren wurde er im Mai 1933 in Hannowka, damals noch in Rumänien. Dorthin machte er sich auf den Weg und traf eine ältere Frau, die sich gut an ihn und seine Mutter erinnern konnte. Sie hatte sogar noch die »schöne« Truhe, die ihr damals zum Abschied geschenkt wurde. Als ob er in einer solchen Truhe wühlt und Erinnerungsstücke herausholt, kommen die Bilder der Kindheit zurück. Es hilft ihm, dass er sich deutsch und russisch verständigen kann. Da ist er kein Fremder. Die Dorfbewohner erzählen ihm aus ihrem Leben.

Für ihn war es wahrhaftig kein leichtes Leben und keine besonders glückliche Kindheit. Den Vater hat er früh durch einen Unfall verloren. Die bigotte Mutter - sei es aus Verzweiflung, sei es ihre Art gewesen - ist ihm als unbarmherzig bis grausam in Erinnerung. Wenn eines der Geschwister bestraft werden sollte, mussten zwei andere den Bruder festhalten, damit sie mit dem Lederriemen dreinschlagen konnte. Es hat lange gebraucht, bis er sie verstehen und ihr verzeihen lernte.

1940 kamen deutsche Soldaten nach Hannowka. Die Bewohner wussten, dass sie ihre Heimat zu verlassen hatten, um nach Deutschland zu gehen, heim ins Reich. Die lange, beschwerliche Reise, auf der sie nur das Notwendigste mitnehmen durften, ging über Serbien in verschiedene deutsche Orte, dann nach Polen. Von Lager zu Lager ins böhmische Schüttenhofen. Dann ins bayerische Grattendorf. Dann Buchenau an der Lahn. Dann Sollstedt in Nordthüringen. Und unstet ging es weiter.

Braun erinnert sich, um im Herbst seines Leben verstehen zu können, wie er und was er geworden ist. Das ist die eigentliche spannende Reise von einem Jungen aus Bessarabien, der es schließlich zum Hochschullehrer und Dr. phil. gebracht hat. Ein Blick zurück im Zorn? Nein. Er ist weise geworden: Ein freundlicher, älterer Herr, der seine verlorene Kindheit in der Erinnerung gefunden hat und seine Heimat in seiner Familie. Dem man gern zuhört, wie bitter es auch ist, was er erzählt. Es ist ein warmherziges Buch. Und ein nachdenklich stimmendes. Das Bild von der Truhe stellt sich noch einmal ein. Sie steckt voller Geschichten und Wahrheiten.

Was Eduard Braun erzählt, lässt auch daran denken, wie Flucht und Vertreibung heute Abertausende entwurzelt, die in eine ungewisse Zeit fliehen müssen -, und denen zu helfen schlicht Menschenpflicht ist.

Eduard Braun: Kindheit ohne Heimat. Eckhaus Verlag. 144 S., br., 12,80 €.

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