Blinder Hass führte das Steuer

Sicherheitsdebatten nach tödlichem Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Kann man noch zum Besuch eines Weihnachtsmarkts raten? Generalbundesanwalt Peter Frank versuchte sich am Dienstag mit einer dialektischen Antwort. Ihm sei gerade nicht nach Feiern zumute, aber generell dürfe man dem islamistischen Terrorismus nicht nachgeben. Die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen, sei dessen Ziel. Und der Berliner Polizeipräsident, Klaus Kandt, ergänzte, die Gefährdungseinschätzung der Behörden habe sich seit Montag nicht verändert.

Am Montagabend war es gegen 20 Uhr auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin zu einem blutigen Vorfall gekommen, den Polizei und Bundesanwaltschaft nach anfänglicher Zurückhaltung dem islamistischen Terrorismus zurechnen. Der Generalbundesanwalt hatte deshalb den Fall übernommen. Ein Lastkraftwagen war mit hoher Geschwindigkeit auf einen Weihnachtsmarkt gerollt und hatte dabei eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Zwölf Menschen starben, 48 wurden verletzt, zum Teil schwer. 25 Patienten befanden sich am Dienstagabend noch in stationärer Behandlung. Unter den Toten befindet sich ein Pole, den die Polizei erschossen auf dem Beifahrersitz fand. Der Laster gehörte einer polnischen Spedition, deren Eigentümer angab, er habe den Fahrer, seinen Cousin, seit etwa 16 Uhr am Montag nicht mehr erreicht.

Gemeinsam mit Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), räumten Frank und Kandt am Dienstag vor der Presse wachsende Zweifel an der Täterschaft eines schon kurz nach dem Vorfall verhafteten Pakistaners ein. Der Mann war 2015 als Flüchtling über Passau nach Deutschland eingereist, seine Vernehmung brachte im Tagesverlauf offenbar keine erhellenden Erkenntnisse. Bis zum Abend lief die Gesetzesfrist ab, in der über einen Haftbefehl zu befinden war; die Entscheidung war bei nd-Redaktionsschluss nicht gefallen.

Augenzeugen hatten den Fahrer des Lkw nach der Todesfahrt beim Verlassen des Fahrzeuges beobachtet und waren ihm eine gewisse Strecke gefolgt, dann aber brach der Kontakt ab. Eine Polizeistreife verhaftete den Tatverdächtigen später an der Berliner Siegessäule. Weil es keine lückenlose Beobachtung gab, »ist diese Unsicherheit da«, sagte Kandt. Der Verhaftete bestritt die Tat hartnäckig. Eine weiterführende Suche nach Indizien, etwa der Abgleich von Körperspuren mit Spuren in dem verwendeten Fahrzeug war zum Zeitpunkt der Pressekonferenz am Nachmittag noch nicht abgeschlossen. Bei einer Durchsuchung in einem Flüchtlingslager im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg sei ein Mobiltelefon beschlagnahmt worden, hieß es. Die Polizei erhoffte sich nach Auskunft von Polizeipräsident Kandt weitere Erkenntnisse aus Personenbeschreibungen von Zeugen des Anschlags.

Frank verglich den Hergang mit dem islamistischen Anschlag im französischen Nizza vom Sommer. Ein Bekennervideo gebe es allerdings bislang nicht, insofern könnten zum Hintergrund des Verbrechens »noch keine endgültigen Aussagen« gemacht werden. Unklar sei auch, ob es einen oder mehrere Täter gebe.

Die Innenminister von Bund und Ländern sprachen sich am Dienstag dagegen aus, Weihnachtsmärkte zu schließen. Berichte aus verschiedenen Bundesländern belegten jedoch zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen. Auf bayerischen Weihnachtsmärkten werden Polizeiautos in den Zufahrten von Weihnachtsmärkten geparkt, um unkontrollierte Einfahrten zu verhindern. Zusätzliche Sperren auf verschiedenen Märkten seien geplant, hieß es. Nach dem Anschlag sollen Weihnachtsmärkte vermehrt mit Betonpollern geschützt werden. Ein Restrisiko werde immer bleiben, bekannte BKA-Chef Münch, vor allem »weiche Ziele« wie Einkaufspassagen oder Märkte könne man nicht umfassend schützen.

Die Debatte über weitere Sicherheitsmaßnahmen wird auch über die Grenzen Deutschlands hinaus geführt. Frankreichs Innenminister Bruno Le Roux besuchte am Dienstag demonstrativ den traditionsreichen Weihnachtsmarkt in Straßburg. Behörden in Belgien und Großbritannien riefen zu erhöhter Wachsamkeit auf. Um den Weihnachtsmarkt von Birmingham herum waren bereits in den vergangenen Wochen Absperrungen errichtet worden.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte den Anschlag in Berlin ein abscheuliches Verbrechen. In einer Erklärung äußerte sich Bundespräsident Joachim Gauck überzeugt: »Wir sind jetzt erschüttert, aber diese Taten erschüttern nicht unsere Überzeugungen. Wir stehen auf einem festen Grund, und wir stehen zusammen - in Deutschland, in Europa und überall dort, wo Menschen in Freiheit leben und leben wollen.« Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte ein hartes Vorgehen des Rechtsstaats an.

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