Joseph und seine Brüder, nicht zu vergessen die Schwestern

Regina Scheer hat die Geschichte der Familie Liebermann aufgeschrieben

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 6 Min.
Als der Maler Max Liebermann 1935 in Berlin starb, ging die 200-jährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie zu Ende, die wie kaum eine andere - von den Mendelssohns vielleicht abgesehen - das Gesicht Preußens und Berlins mitbestimmt hat. Anders als bei diesen lassen sich die illustren Verwandtschaftsbeziehungen bei den Liebermanns nicht unmittelbar am identischen Nachnamen ablesen. Wer weiß schon, dass der AEG-Gründer Emil Rathenau und der Impressionist mit Wohnsitz neben dem Brandenburger Tor den gleichen Großvater namens Joseph Liebermann hatten? Womit Außenminister Walther Rathenau folglich den Maler und Präsidenten der Akademie der Künste zum Großonkel hatte. Die für die Emanzipation der Frau kämpfende Politikerin Josephine Levy-Rathenau gehört ebenso zur prominenten Familie wie Hugo Preuß, der Staatsrechtler, welcher als deutscher Innenminister maßgeblich an der Weimarer Verfassung strickte. Regina Scheer hat sich nun diesem weit verzweigten Clan an die Fersen geheftet, akribisch die Archive umgegraben und lässt die spannende wie spannungsvolle jüdischer Assimilation aufleben. Mit einem plastischen Bild setzt die Kulturwissenschaftlerin ein: mit jenen Tausenden von Staren, die allabendlich die Stadtluft rund um den Berliner Dom erfüllen. Da Stare über Generationen hinweg Stimmfolgen speichern und reproduzieren können, man etwa noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Luftsirenenlaute im Schreien der Stare vernehmen kann, spekuliert die Autorin, inwieweit wir nicht auch heute noch akustische Spuren der Liebermannschen Vorfahren wahrnehmen können. Zum Beispiel den ersten Schrei des kleinen Max, der 1847 unweit des Doms in der Burggasse auf die Welt kam. Als im Jahre 1812 Hardenbergs Emanzipationsedikt Juden die Möglichkeit eröffnet, sich gleichberechtigt in Berlin niederzulassen, wagen auch drei Brüder Liebermann diesen Schritt, darunter der eingangs erwähnte Joseph Liebermann. Bis dahin hatten sich die Vorfahren hinaufgearbeitet in die geachtete Oberschicht des westpreußischen Städtchen Märkisch Friedland, wo die jüdische Bevölkerung bereits im frühen 18. Jahrhundert die Hälfte der Einwohner stellte. Diese hielten selbstbewusst an ihrer religiös Tradition fest. In Berlin hingegen kündigte sich um 1800 deutlich das Reformjudentum an, bitter bekämpft von der Orthodoxie. Diese Wellenbewegungen aus Einverleibung und Abstoßung ebenso einfühlsam wie historisch fundiert darzustellen, zählt zu den größten Stärken dieses Buches. Die Liebermanns aus Märkisch Friedland waren stolz darauf, dass sie an Bildung sowie Kultur denen in Berlin und Königsberg kaum nachstanden. Der Gründungsmythos setzt ein, als im Jahre 1811 der 28jährige Joseph die 19-jährige Marianne Callenbach, Tochter des ordentlichen Schutzjuden Elias in Märkisch Friedland zur Frau nimmt. Zehn Kinder gehen aus dieser Ehe hervor, darunter 1819 Louis, der Vater von Max Liebermann. Zum siebzigsten Geburtstag des Malers zeichnet Walther Rathenau ein Psychogramm der eigenen Familie: »Jene zehn Kinder haben ihre Mutter nie lachen sehen; sie war in von starkem, eisernen Willen, der in ihrem Testamente fortlebt.« Doch neben die unbedingte Liebe dieser Mutter, die klug Stärken und Schwächen ihrer Sprösslinge ausmachen konnte, trat die komplementäre »Lebenslust« ihres Mannes, so dass die Kinder von beidem profitierten: dem »Wechsel von Willensstärke und Heiterkeit, verantwortlichem Ernst und Leidenschaft.« Joseph Liebermann und seine Brüder erwiesen sich als die richtigen Männer am rechten Ort. Sie erkannten die Zeichen der Zeit und setzten auf die Industrialisierung, welche den preußischen Agrarstaat verwandelte. Mit Fleiß und Geschick spezialisierten sie sich zunächst auf den Handel, bald auch auf die Fabrikation von Kattun. Die »Prussian Shawls« mit ihren orientalischen Mustern eroberten rasch die europäische und nordamerikanische Damenwelt, waren schöner und billiger als die in England hergestellten. Als 1834 der Deutsche Zollverein gegründet wurde, galt Berlin als der wichtigste Standort für die Veredelung von Kattun. Und zwanzig Jahre später gilt Benjamin Liebermanns Kattunfabrik mit seinen 1000 Arbeitern als bedeutendstes deutsches Unternehmen dieser Art. Als Joseph Liebermann 1860 starb, hinterließ er ein Millionenvermögen. Aus der jahrhundertelangen Ächtung der Juden erwuchs die Kultivierung einer ganz spezifischen Lebenshaltung, nämlich wachen Sinnes künftige Entwicklungen zu erspüren und sich darauf einzurichten, nicht allzu sesshaft, allzu festgelegt zu sein. Mit Zähigkeit waren die Immigranten aus Märkisch Friedland in der preußischen Oberschicht angekommen: Der Name »Liebermann« genoss einen guten Ruf. Spannend versteht es Regina Scheer, die lokale Entwicklung der preußischen Textilindustrie darzustellen, sie einzubinden in globale Tendenzen und Interesse zu wecken für die technischen Pionierleistungen der Zeit. Mit Elan verschreibt sie sich der Stadtarchäologie und versucht etwa am Kreuzberger Spreeufer den genauen Standort der Liebermannschen Kattunfabrik zu eruieren: zwischen der Heeresbäckerei und dem Areal der Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mit ihrem einstigen Victoria Speicher. In eben diesen Speicher verfrachtete Goebbels hundert Jahre später Werke der entarteten Kunst, zu denen pikanterweise auch die Bilder von Max gehörten. Solche Kontingenzen aufzudecken gehört zu den Verdiensten dieses Buches. Ausgerechnet Arno Breker nahm auf Geheiß von Martha Liebermann die Totenmaske ihres Mannes ab. Die zivile Courage und die Unbestechlichkeit, mit denen der Maler seinem Kaiser entgegengetreten war, vermisst man später bei Breker entschieden. Problematisch erscheinen allerdings Scheers inflationäre Vor- und Rücksprünge innerhalb der vielgliedrigen Sippe, das emsige Anreichern mit wechselnden Adressen. Gemäß dem legendären Malmot von Karl Kraus »Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit« sind hier Fußangeln eingebaut. Die Konzentration auf einige Protagonisten hätte dem ansonsten gehaltvollen und flüssig geschriebenen Buch gut getan. Schließlich gibt es doch eine Reihe interessanter Käuze beiderlei Geschlechts in der Familie Liebermann. Bekanntlich war schon Robert Musil angetan von der komplexen Persönlichkeit Walther Rathenaus und ließ ihn zu einer ebensolchen Gestalt im »Mann ohne Eigenschaften« gerinnen. Als gute Psychologin nähert sich Scheer behutsam ihren Figuren an, behelligt sie nicht mit gängigen Klischees. Rathenau durchlebt offenbar einen klassischen Vater-Sohn-Konflikt, sprach selbst oft vom »Gesetz des Kontrastes« zwischen dem Senior und ihm, der als Dreißigjähriger seinen Text »Höre Israel« abdrucken ließ, ein Exemplum des jüdischen Selbsthasses. Um die Jahrhundertwende waren die antisemitischen Klopfzeichen nicht mehr zu überhören. Scheer resümiert: »So vornehm ihre Häuser waren, so dicke Mauern gab es nicht, da waren genug Ritzen, durch die das Wort Judensau kroch.« Die Ermordung Walther Rathenaus 1922 wurde als Fanal empfunden. Erschütternd wird der Untergang des Hauses Liebermann geschildert. Spärlich der Trauerzug, der 1935 hinter Max Liebermann auf dem verschneiten Friedhof die letzte Ehre erweist. Angeblich hatte die Gestapo Publikum bei der Beerdigung verboten. Erbärmlich, mit welcher Impertinenz die Nationalsozialisten erst die vermögende Witwe ausweideten und ihr dann die Ausreise immer wieder verweigerten, bis sie ihrer Vernichtung in Theresienstadt mit Veronal zuvorkommt. Etliche Familienangehörige taten es ihr gleich, viele endeten in den KZs, nur wenigen gelang die Flucht ins Ausland. Den Aderlass für die Berliner und deutsche Kultur hat Regina Scheer in ihrem Tableau eindrucksvoll gewürdigt. Im Berliner Telefonbuch von 1948 entdeckt sie wieder drei Liebermanns, zwei Männer und die Hebamme Gertrud Liebermann in Alt-Friedrichsfelde. Die beiden Männer haben offenbar mit der Dynastie aus Märkisch Friedland nichts zu tun. Regina Scheer: Wir sind die Liebermanns. Die Geschichte einer Familie. Propyläen Verlag 2006. 416 Seiten. 22,90 EUR.

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