Die Größe zählt doch, finden die Großen

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über das Tarifeinheitsgesetz / Gewerkschaften sind in der Frage uneins

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun hat sie begonnen, die mit Spannung erwartete Verhandlung um das seit Jahren umstrittene Tarifeinheitsgesetz. An diesem Dienstag begann die zweitägige Sitzung vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, die am Mittwoch - dem Vernehmen nach »open end« - fortgesetzt werden sollte.

Das im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz aus dem Hause von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sieht vor, dass in einem Betrieb, in dem mehrere Gewerkschaften aktiv sind, nur die mitgliederstärkste Tarifverträge abschließen darf. Die kleineren Organisationen sind zur Friedenspflicht verdonnert, dürfen nicht mehr selber streiken. Die Regelung war aus Sicht der Politik und einiger DGB-Gewerkschaften nötig geworden, nachdem das Bundesarbeitsgericht im Sommer 2010 den Grundsatz »ein Betrieb - ein Tarifvertrag« gekippt hatte. Zur Anwendung kam das Gesetz bislang nicht.

Eingeladen waren zur Verhandlung VertreterInnen der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC), des Deutsche Beamtenbundes (dbb), der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB), der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation (UFO) sowie der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, um ihre Statements zu dem Gesetz abzugeben. Der Deutsche Journalistenverband (DJV), die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die Fluglotsengewerkschaft hatten ebenfalls Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz eingelegt, in dieser Verhandlung aber nur Beobachterstatus.

Das Gericht muss entscheiden, ob das Gesetz mit dem Grundgesetz in Einklang ist oder ob es die darin garantierte Koalitionsfreiheit und das Streikrecht einschränkt. Genau das befürchten die Kritiker.

So sagte der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, ÄrztInnen würden in einem Betrieb immer die Minderheit darstellen. Die Gewerkschaft könne in einem Krankenhaus nur maximal 15 Prozent der Beschäftigten organisieren. Die Zahl etwa der Pflegeangestellten liegt höher. Henke sieht die Handlungsmacht seiner Organisation schwer beeinträchtigt, wenn sie nur am »Katzentisch« Platz nehmen dürfe.

Das Gesetz verdonnert die kleineren Gewerkschaften zum Stillhalten. Deshalb wehren sich besonders die Berufsgewerkschaften der Piloten, Ärzte oder Flugbegleiter von Beginn an gegen die Norm.

Die Bundesarbeitsministerin verteidigte ihr Werk gegen die Kritik. Es sei keinesfalls mit dem Hintergedanken erlassen worden, die Kleinen zu schwächen. »Das ist weder Ziel noch Wirkung des Gesetzes«, sagte Nahles am Dienstag in Karlsruhe. Vielmehr solle das Gesetz durch die Drohung der erzwungenen Friedenspflicht »Anreize für Kooperation und Abstimmung« schaffen. Es sei nicht hilfreich, wenn Gewerkschaften miteinander stritten. Ein Ziel ihrer Amtszeit sei es Solidarität und Kooperation unter den abhängig Beschäftigten zu fördern, sagte Nahles weiter nach Angaben eines Prozesszuschauers. Ähnlich habe sich auch der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, geäußert. Ein bisschen Zwang zur Kooperation sei nicht nur schlecht.

Der DGB ist in Sachen Tarifeinheit gespalten. Beispielsweise Hoffmanns Heimatgewerkschaft IG BCE befürwortet das Gesetz. Die IG Metall hatte anlässlich der Verabschiedung Ende Mai 2015 festgestellt, die Regelung greife nicht ins Streikrecht ein. Das sehen die DGB-Schwestern ver.di, GEW und NGG anders und lehnen die gesetzliche Regelung rundweg ab. »Wir streben Tarifeinheit bei Tarifverhandlungen stets an, damit Beschäftigte nicht gegeneinander ausgespielt werden, aber dies müssen wir mit gewerkschaftlichen Mitteln erreichen«, sagte etwa ver.di-Vize Andrea Kocsis. Ein Beispiel für die gelebte Tarifpluralität und kooperative Verhandlungen sind die laufenden Verhandlungen für die Beschäftigen im öffentlichen Dienst der Länder. Hier sitzen ver.di, der dbb und die GEW gemeinsam am Verhandlungstisch.

Doch eine mangelnde Einigkeit ist genau der Grund, weshalb es die »kleinen Gewerkschaften« gibt. Beispielsweise der MB hat die Kooperation mit ver.di aufgekündigt, nachdem sich die ÄrztInnen in einem Tarifabschluss im Jahr 2004 nicht ausreichend berücksichtigt sahen. Von der »Zwangsjacke ver.di« war damals die Rede. Ähnlich war es mit UFO und der ver.di-Vorläuferorganisation ÖTV. Man trennte sich 1992. Seitdem herrscht bittere Konkurrenz in den Airlines.

Eine weitere Kritik an dem Gesetz sind handwerkliche Mängel, die zu Nachbesserungsforderungen des Verfassungsgerichts führen könnten. Danach ist nicht klar geregelt, wann das Gesetz greift - am Beginn einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gewerkschaften oder wenn zwei sich überschneidende Tarifverträge in Kraft treten. Was hieße das für die Beschäftigten? Müssen die dann die Lohnerhöhungen zurücklegen, für den Fall, dass sie zurückgezahlt werden müssen, wenn ein Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft nachträglich für nichtig erklärt wird? Oder drohen lange Lohnnullrunden, bis ein Gericht entschieden hat, welche Gewerkschaft in einem Betrieb das Sagen hat? Ständige und wechselnde Auseinandersetzungen um die bloße Frage, welche Gewerkschaft die Mehrheit im Betrieb hat, gingen zulasten der Beschäftigten, sagte Andrea Kocsis.

Für das Verfassungsgericht ist die Tarifeinheit terra incognita: »Weil der Gesetzgeber sich bisher bei der Regelung der Konkurrenz im Arbeitnehmerlager normativ zurückgehalten hat, betreten wir hier Neuland«, sagte Gerichtspräsident Ferdinand Kirchhof bei Verhandlungsauftakt. Das Gericht werde sich eingehend inhaltlich mit dem Gesetz auseinandersetzen. Mit einem Urteil wird nach Gerichtsangaben erst in einigen Monaten gerechnet. Mit dpa

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