Riesenschreie, Fanale, Aufruhr in Orchester und Chor
In der Philharmonie Berlin: John Adams’ Passionsoratorium »The Gospel According to the Other Mary«
Wer ist dieser Jesus, den die Choreröffnung des 2. Akts in grelles Licht setzt? Der sanfte, mitfühlende Heilige, der alle Lasten und Sünden seiner Schäfchen auf sich nimmt? Der Chor schreit: »Der die Nähte seines Fleisches zerreißt, heraustritt / und dabei eine Axt schwingt / der sein eigenes Kreuz fällt, der sich rittlings darauf setzt / ...Der den Stein wegrollt vor dem Grab seiner Mutter / der ihren Schleier daraus hervorholt / der sich das schmutzige Tuch um die Hüften bindet / und sich auf den Weg macht / zu Fuß nach Damaskus, nach Beirut / wo man sich in seinem Namen versammelt.« (Übersetzung : Eva Reisinger) Solch einer also sei Jesus, einer, der sich schert um die Abgründe der Welt und aufbegehrt. Einer, des Betens müde? Orchestrierte Boogie Woogie - Rhythmen und Kerben setzende Fermaten begleiten diesen aufsässigen Text. Lazarus, Bruder Frauen, schildert hernach den Einbruch der Polizei ins Haus der Martha und ihrer Schwester Maria Magdalena. Jesus wäre festgenommen worden. Einer seiner Begleiter hätte das Schwert gezückt und, wie es die Bibel erzählt, einem der Hohepriester-Diener das Ohr abgeschnitten. Wilde Rhythmen im Blech. »Hört auf damit!«, habe Jesus gerufen, worauf er biblisch das Ohr berührt und den Mann geheilt habe. Welch fulminanter Akt-Einlass?
John Adams hat dies komponiert. Adams, US-Amerikaner, gastiert derzeit in Berlin. Am Hause des Stardirigenten Simon Rattle arbeitet er als Composer in Residenz, komponiert, probt mit Ensembles, stiftet Kontakte, hat große Aufführungen. In der Philharmonie kam sein englischsprachiges Oratoriums »The Gospel According to the Other Mary« (revidierte Fassung 2012) an drei Abenden. Wahrhaft, ein Monument, weit ausgreifend, gesetzt für Solisten, Chor und großes Orchester. Ein Passionsoratorium, das Ausdauer, teils auch hohe technische Anforderungen verlangt und einen Stoff mitführt, der an Bibeltexten, Berichten und Versen entlang unmittelbar in die explosive Jetztwelt führt. Die Textcollage lieferte kein geringerer als Theaterregisseur Peter Sellars, der das Werk 2013 in Los Angeles szenisch uraufführte. Zuvor hatte Dirigent Gustavo Dudamel dort die oratorische Version aus der Taufe gehoben. Nun kam »The Gospel According to the Other Mary« erstmals in Berlin.
Libretto und Musik erzählen die Passionsgeschichte des Jesus von Nazareth neu. Texte sind dem Alten und Neuen Testament entnommen, der Bergpredigt, den Berichten Lukas und Johannes zumal, dazu Texte der Afroamerikanerin June Jordan, der Mexikanerin Rosario Castellanos, der US-Amerikanerin Louise Erdrich, des Nicaraguaners Rubén Darío, des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, der amerikanischen Sozialistin und Frauenrechtlerin Dorothy Day und der Altmystikerin Hildegard von Bingen. All dies Material subsumiert sich einem Gesamtkonzept, das der Utopie der Befreiung Ausdruck zu verleihen sucht. Ein kühnes Unterfangen.
Anderes Licht fällt auf die Marien-Überlieferung, worauf schon der Titel weist. Entgegen üblichen Lesarten kommt die geläuterte »Mutter Gottes« nicht aus dem »Hurenmilieu«, sondern die Heilige ist hier Rebellin, tief erschrocken über das allseits herrschende Unrecht wie jenes, das ihrem Sohne angetan. Ein Wesenstopos in dem Werk ist die unterdrückte Frau. Es scheint, als wolle Maria mit ihrer Schwester diesen vorangehen, statt deren Leiden nur zu besingen. Voll Zorn halb gesprochen kommt aus Maria: »Denn es kommen Tage / da wird man sagen: Wohl den Frauen, die unfruchtbar sind / die nicht geboren und nicht gestillt haben.« Darauf Riesenschreie, Fanale, Aufruhr in Orchester und Chor.
Nicht leicht, solch monumentales Konzept in Klänge zu verwandeln. Zweifel kommen auf beim ersten Akt. Hier allzu oft Rhythmuseinfalt. Oberhand gewinnen Dreiklangsfortspinnungen, die nicht aufhören wollen. John Adams kommt mit Terry Riley, Steve Reich, Philipp Glass und anderen aus der minimal music, und die hat ob ihrer Repetitionslust auf Immergleiches ihre Tücken. Adams aber hat unterdes gelernt, vor allem, dass Eindimensionales mit dem Unendlichen kompositorischer Verknüpfung Einher gehen kann.
Das Werk entfaltet vor allem im 2. Akt eine weiträumige, in sich wogende, pulsieren Architektur, biblische Einkehr und Trauer genauso berücksichtigend wie Extrempunkte und Tonfälle, die an Gewalt und Gegengewalt erinnern. Die Vokalparts stachen allesamt hervor. Erste Kräfte sangen. Kelley O’Connor die Maria, Tamara Mumford die Martha, Peter Hoare die Berichte des Lazarus. Jesus selber hat keine Rolle. Was nicht aufgeht, erschließt sich über chorische Berichte und vokalsolistische Kommentare. Gleich drei hochartifizielle Countertenöre mit teils schwierigen Parts fügen sich dem Geschehen ein. »Frau, siehe, dein Sohn!«, lento adagio in hoher Lage von ihnen vorgebracht, gehört zum Schönsten des Werks.
Der Chor (der Rundfunkchor Berlin - von mobiler Durchschlagskraft und hoher Sensibilität ) erscheint vielmals geteilt in Frauen- und Männerchor mit je spezifische Aufgaben. Einzelne Instrumente und Gruppen ragen hervor. Etwa die gezupften Bässe der Harfe, die wütenden Einlassungen der acht Kontrabässe, die Melodieschönheiten der Soloklarinette, die abgehobenen Klanggebungen des Cymbalons wie die gestimmten Gongs, hörbar vornehmlich im Schlussdrittel von Akt 2. Das Einzelne gelang so gut wie das Gesamtorchestrale unter Simon Rattle.
Was ist dies Oratorium? Komposition eines nimmersatten Rebellen, zischend gegen Gewalt, der seine Partitur mit Stachelruten gegerbt hätte und Sturmposaunen ins Rennen schickt, tauglich, die Planungen zu den unheiligen Mauern in Nordamerika symbolhaft auszulöschen? Nein. Wohl aber ein Werk, das neuerliches Nachdenken über den jetzigen Weltzustand am Beispiel größter geschichtlicher Erschütterung nachhaltig bewirken kann.
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