Die Analog-Renaissance

Computerspiele erhalten machtvolle Konkurrenz aus der Vergangenheit. Von Mark Stralau

  • Mark Stralau
  • Lesedauer: 4 Min.

Lange, eigentlich bis Mitte der 80er Jahre, drohte in deutschen Landen Ost wie West in Vergessenheit zu geraten, dass es neben Fernsehen auch noch so etwas wie Kino gibt. Später konsumierte man kopierte Musik lange Zeit fast ausschließlich über elektronische Tonträger, bis sich ganz heftig eine neue alte Liebe zu Vinylplatten entwickelte. Es werden auch wieder mehr Bücher gelesen, im Garten sind wieder alte Obstsorten gefragt, Holz feiert Auferstehung als Roh- und Baustoff, Landleben wurde zum Magnet. Es ist erwachte Lust am Ursprünglichen zu spüren. Offenbar eingebettet in einen übergreifenden Zeitgeist, ganz nach dem Motto: »Vorwärts, zurück zu den Wurzeln!«

Besagter Zeitgeist hat in den letzten fünf, sechs Jahren auch das Spielen ergriffen. Und zwar mit dem Ergebnis, dass die konventionellen Spiele, also die Gesellschaftsspiele, eine kaum geahnte Renaissance erleben. Kaum geahnt deshalb, weil die Spielezukunft noch gestern allein und für allemal eine elektronische zu sein schien. Nun eine Wende mit zwar noch ungewissem Grad, aber weiter in voller Bewegung.

Tendenziell wechseln da nicht etwa Leute Ü 50 am stärksten den Kurs (die hatten Brett, Würfel und Karten ohnehin nie ganz gegen den Joystick getauscht), sondern vor allem Kinder und Jugendliche. Als Reaktion darauf, so Christian Beiersdorfer, Geschäftsführer von Spielautoren-Zunft e.V., kommen in Deutschland inzwischen »pro Jahr rund 1500 (!) Neuentwicklungen auf den Markt«. Hermann Hutter, Vorsitzender des Branchenverbandes Spieleverlage e.V., schätzt, dass davon »gut 100 erfolgreich und noch 300 weitere ganz ordentlich laufen«.

Anfang 2017 kann Hutter nun mit beeindruckenden Wachstumsraten einer Branche aufwarten, deren Umsatz in Deutschland inzwischen bei rund einer halben Milliarde Euro liegt. »Die Brettspielbranche konnte 2016 zum zweiten Mal nacheinander den Umsatz um mehr als zehn Prozent steigern.« Als Zugpferde nennt er »Kinderspiele, Vorschulprodukte und Strategiespiele für Familien«, letztere kommen sogar auf ein Plus von 26 Prozent. Doch ebenso seien Karten- und Würfelspiele sowie Denkspiele beliebter als je zuvor.

Auf Neudeutsch werden Denkspiele übrigens auch Brainteaser genannt, so wie sich für Brettspiele, zumindest branchenintern, der Begriff Boardgames einzubürgern beginnt. Das hat übrigens nicht nur mit einer vermeintlichen, zur Schau gestellten Weltläufigkeit zu tun, sondern durchaus mit einer faktischen Internationalisierung der Analogspiel-Renaissance. Sogar mit einem völligen Neustart wie etwa in den USA.

Dort bilden inzwischen zunehmend Brettspiele, übrigens vor allem welche aus Deutschland, das Geschäftsmodell neuer Cafés und Clubs. Selbst in Seattle, also unweit des Epizentrums des digitalen Weltgeschehens, schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Das Café Mox gehörte zu den Trendsettern. 4000 Brettspiele halte man ständig zur Ausleihe oder zum Verkauf vor, heißt es auf der Homepage. So etwas kannte die bisher magere US-Spielkultur, die sich weitgehend mit Kinder-, Baller- und Glücksspielen begnügte, nicht.

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang unbedingt, dass es drüben auch den ersten Nach-Bobby-Fischer- Schachboom gibt. Drei Spieler der Welt-Top-Ten, darunter die Nummer 2, Fabiano Caruana, kommen aus den USA. Das Land gewann 2016 Gold bei der Schacholympiade und New York City veranstaltete unlängst das WM-Duell. Das »Wall Street Journal« druckte jüngst eine ganze Serie von Schachtexten, die Disney-Filmstory »Queen of Katwe«, eine junge Spielerin aus Uganda, ist ein Kassenrenner. Die Popkultur zitiert Schach als Symbol für Intelligenz und strategisches Denken in der Popkultur, wie Vanessa West bei Chessbase berichtet.

Einerseits ist Schach für die aktuelle Renaissance des Analogspiels gar nicht so das typische Beispiel; als eines der ältesten Brettspiele war es über die Jahrhunderte ohnehin immer wieder mal vergessen und wurde wiederentdeckt. Andererseits ist es jedoch für etwas anderes exemplarisch. Ob seiner Potenz lief es in der Moderne nie Gefahr, vom Internet verdrängt zu werden. Vielmehr hat es das seinerseits zu einer Schachplattform gemacht, wie es sie nie gab.

Womit auch die künftige Korrelation zwischen klassisch-analogen und ET-Spielen skizziert sein könnte. Nicht das eine wird das andere ersetzen, sondern beide werden die Welt des Spiels weiter öffnen. Geld und Werbung können das beschleunigen, bremsen, aber nicht verhindern. Weil es beim Spiel an sich um sozial Existenzielles geht. Weil »menschliche Kultur überhaupt nur im und als Spiel aufkommt und sich entfaltet«. So der glänzende dänische Kultursoziologe John Huizinga 1956 in seinem »Homo Ludes«.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal