Amerika, wohin geht die Reise?

Eine Konzertreihe im Radialsystem V erkundet Hugues Dufourts »Kontinente nach Tiepolo«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit »Dreizehn Kontemplationen gegen eine Intervention des Schalls« hob der interessante, überaus gut besuchte Abend an. Das Stück geht etwa so: Die Musiker bilden auf der Bühne zwei gestaffelte Reihen. Hinten, etwas erhöht, die Mexikaner vom Ensemble LIMINAR mit zunächst schwerlich auszumachendem Instrumentarium, vorn die nominierten deutschen Spieler vom Kammerensemble Neue Musik Berlin (KNM), drei Holzbläser, Streichtrio. Letztere präludieren mit ausgehaltenen Tönen und Akkorden. Nach gewisser Zeit zelebriert die hintere Reihe Geräusche, Töne aus Mundorgeln.

Eine »Harfe« stimmt an, keine gewöhnliche, eine mexikanische, im Klang ähnlich dem Hackbrett, dem Cymbalom, der Zither. Pulte lancieren elektronische Gewebe in die Vorgänge. Von Kontemplation zu Kontemplation amalgamieren die Klangebenen in je anderer Art, lösen sich, reißen schnittförmig auseinander. Die Einförmigkeit der Mundorgelgeräusche und -töne verwandelt sich in Vielförmigkeit. Münder, daran Schläuche mit kuriosen Mundstücken, pusten komische Kakophonien aus. Je mehr kooperativer Musiziergeist herrscht, desto rhythmischer das Geschehen. Ganz unaufgeregt das Ende. »... gegen die Intervention des Schalls«. Komponiert hat das Stück Juan Felipe Waller, geboren 1971 in Mexiko City. Eine Uraufführung.

Amerika, wohin geht die Reise? Das Projekt »Die Welt nach Tiepolo: Amerika«, programmiert von Thomas Bruns, der das KNM leitet, unternimmt eine Routenbeschreibung. Zwei hochklassige Ensembles aus sehr verschiedenen Hemisphären koproduzieren, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, bieten Neues und verzichten nicht, Meister früherer Tage mitsprechen zu lassen. Das KNM nennt seine Mitstreiter einfach »Friends«. Und die Mexikanischen Musiker von LIMINAR, die sie einluden, empfinden das nicht anders, so der Eindruck. Beide Gruppen, sie brauchten in dem Fall keinen Dirigenten, sind Freunde. Glückvoll ist, wie und was sie musizieren. Amerika steht im Fokus, das bessere, das ohne Mauern auskommt, eins, das die Völker vereint, statt sie gegeneinander zu hetzen, ein Kontinent, dessen Bewohner ihren Stoffwechsel mit der Natur »unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten Bedingungen vollzieht« (Karl Marx). Dies der klar empfindbare gedankliche Leitfaden des Abends.

Eine Entdeckung die gebotenen vier Stücke von Julián Carillo, mexikanischer Komponist, Dirigent und Violinist (1875-1965). Carillo, wie Alois Hába und später Gerard Grisey (Spektralmusik) ein Mikrotonalist, hat er bereits um die Jahrhundertwende den Violinton in bis zu sechzehn Segmente aufgespalten und Theorien der Xstel-Ton-Komposition entwickelt. Sein »Preludio a Colón« (1924/25) ist mit Stimme, Flöte, Vierteltongitarre, Sechzehnteltonharfe und Streichquartett besetzt. Das klingt verstiegen. Aber diese ruhige, auf permanente Tonschwankungen und sonderbare Schwebungen zumeist im Terzbereich angelegte Komposition, die LIMINAR mit der Sängerin Carmina Escobar vorbrachte, vermag die Sinne zu fesseln. 1928 komponierte Carillo »I think of you«. Es erklang, ähnlicher besetzt, in wunderschöner Vokalität.

Längstes Stück des Abends: Hugues Dufourts titelgebendes »L’Amerique d’aprés Tiepolo« für Ensemble. Das Werk eröffnet den vierteiligen Zyklus »Apollon und die Kontinente nach Tiepolo«, woran der Franzose zehn Jahre gearbeitet haben soll, und bezieht sich auf Abbildungen der berühmten Deckenfresken des Giovanni Battista Tiepolo, die um 1750 für die Residenz Würzburg entstanden: Auf 600 Quadratmetern stellte der venezianische Maler die vier damals bekannten Kontinente dar. Die drei noch folgenden Teile der KNM-Reihe werden sich folglich Europa, Asien und Afrika widmen.

Ein clustergeschwängertes Klaviersolo leitet Dufourts Komposition ein, temperametvoll gespielt von Frank Gutschmidt. Vielfarbiges Solo- und Gruppenspiel fügt sich an. Groß die Rolle des meist schlegellos agierenden Percussionisten Axel Babel. Er tastet, streicht mit Bogen, triangelt, jongliert wie ein Clown, schabt, wirft, schlägt, spielt den Glöckner, wirbelt, zupft, steckt den Gong schlagend in die Zinkwanne mit Wasser. Dann - mit Blick auf Zaubereien und uralte Rituale - einsames Wiehern und Heulen aus gescheckten Blasebälgen.

Zuletzt erklang mit beiden Gruppen eine Art ritueller Hymnus auf Gemeinschaft, Individualität und Freiheit: »Form 1« von James Tenney (1934 - 2006). 21 Musiker in Aktion, starr, in Gruppen kreisförmig angeordnet im Raum. Spiel mit Haltetönen, Einsatz des je Einzelnen in je verschiedenen Abständen. Tenor: Dissonanz gegen Konsonanz. Auf den Pulten Handys als Zeitmesser. Das Gesamte klingt wie ein im Raum ausgebreiteter symphonischer Teppich. Mutationen führen hin zu Alter Musik, wie sie in Kathedralen erklingt. Resümee: Ein jeder zieht anders am selben Strick. Der Einzelne im Kollektivum bleibt unbeschädigt, behält seine Würde.

Nächste Konzerte: 29.4. (Europa), 24.6. (Asien), 30.9. (Afrika) nd-Leserreise »Würzburg - Auf den Spuren von Tiepolo« 8. bis 11.9., weitere Informationen: (030) 2978-1620

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