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Lebensbilder

  • Lesedauer: 9 Min.
Topinambur Strittmatter spricht von » Topinambur«. Ich verstehe das Wort nicht, lasse es ihn jedoch nicht merken, denn es scheint mir unmöglich, mich dem großen Mann, dessen Freundschaft ich so wenig verdiene, gleich bei unserer ersten Zusammenkunft so dumm zu zeigen - vielleicht wäre er ja über meine Unwissenheit enttäuscht! Dann kommt das Wort ein zweites Mal, und es ist schlimm, denn es kommt jetzt in einem Fragesatz vor. Doch ich habe Glück: Die Stute Salka unter meinem Sattel scheut und springt zur Seite. Ich darf, anstatt womöglich selber herunterzufallen, wenigstens die Frage fallen lassen und dem so unberechenbaren Pferdeweib dafür dankbar sein; nur kann ich mir die Möglichkeit, dass das verflixte Wort schon bald wieder auftaucht, nicht ganz aus dem Kopf schlagen. Ja, ich kann unmöglich damit rechnen, dass die Salka noch einmal so gut sein würde, zur Seite zu springen oder meinetwegen mich auf den mecklenburgischen Sand abzuwerfen oder gar mich von der lästigen Frage wegzuschleifen. Also muss ich etwas dagegen tun, und ich tue es auch: Ich beschließe, das Gesprächsthema zu wechseln, erzähle vom Meer, an dem ich gerade war, von einem Unfall, den ich unterwegs gesehen habe, und von weiteren Dingen, die mir irgendwie in den Sinn kommen. Allein Strittmatter scheint ein so rettungsloser Pferdenarr, was er selber auch hin und wieder gesteht, nichts kann ihn von den Pferden abbringen, er bleibt hartnäckig dabei. Dann will er mir sogar noch seine Ponys zeigen, die irgendwo im Wald untergebracht sind. Ich muss ihm folgen, und ich tue es auch, nur bin ich dabei wie einer, den der Schuh oder sonst etwas drückt. Als wir nach etwa einer Stunde Ritt endlich dort sind, drückt er mir einen Strick in die Hand, mit dem ich ein Fohlen fangen soll. Der ist jedoch zu kurz. Strittmatter will wissen, wie lang ein richtiges Lasso sein muss. »Zwölf Klafter«, sage ich. »Klafter - was ist das?», höre ich ihn fragen. Ich stocke. Nicht Schadenfreude, nichts dergleichen - es ist mir einfach seltsam. Dann spanne ich die Arme aus, um zu zeigen, was ein Klafter ist. »Wieder was dazugelernt!«, ruft er aus, und er tut es mit einer solchen Inbrunst, dass einer, der nicht hören, dafür aber sehen kann, dem strahlenden Gesicht abgelesen hätte: Diesem Mann da ist soeben ein kleines Wunder widerfahren! Auf dem Heimritt betrachte ich meinen Weggefährten verstohlen mit einem Seitenblick. Dabei entdecke ich in dem Mann, der mir Vater hätte sein können, etwas sehr Kindliches, was ihm so wunderbar steht, dass ich es auch nicht für verwunderlich gehalten hätte, wenn er plötzlich vom Sattel heruntergesprungen und davongehüpft wäre, jauchzend und mit den Armen wedelnd, nur weil er jetzt weiß, was ein »Klafter« ist. Da wird es mir unerträglich, dass ich diesem Mann zur Seite reite und leide, weil ich nicht weiß, was »Topinambur« ist. Also frage ich. Und als ich es dann endlich weiß, wundere ich mich sehr darüber, wieso ich seiner Erzählung die ganze Zeit habe folgen können, ohne das Wort gekannt zu haben. Und als ich dann eine Woche später von Strittmatters wegfahre, wundere ich mich noch mehr darüber, woher ich denn die Frechheit genommen habe, dorthin zu kommen, wo ich nicht einmal den Mut habe zu gestehen, dass auch ich etwas nicht weiß. Der Zufall Ich soll vorführen, wie man mit dem Lasso Pferde fängt, und dabei werde ich von einem Dutzend neugieriger Augen verfolgt. Als ich den Strick in die Hände nehme, fühle ich in den Gelenken lähmende Unsicherheit, ja, ich sehe mich glattweg vor die Unmöglichkeit gestellt, denn erstens ist der Strick zu kurz und zu leicht, dann handelt es sich hier um ein winziges, schlüpfriges Fohlen, dem meine Lassokunst gelten solle, und schließlich befinden sich unter dem Dutzend beobachtender Augen die zwei eines Erwin Strittmatter. Die Ponyherde wird auf mich zugetrieben, und mein Lasso fliegt, begleitet von einer ganzen Tracht Gebete, nach dem Fohlen. Bevor ich den Arm schwinge und den Strick auswerfe, versäume ich aber nicht, mein Vorhaben in alle Himmelsrichtungen hin gut hörbar als »Probe« auszugeben. Womit ich Freiraum für einen kleinen Beschiss haben will im Falle eines Verfehlens. Nun aber fällt der Wurf, gegen jedes Erwarten meinerseits zumindest, das gebe ich gerne zu, wirklich gut aus, und das liebe, klitschige Wesen sitzt darin! Die Herde ist überrascht und das Publikum begeistert. Dankbar sehe ich auf das Opfer, das am anderen Ende des Stricks zappelt, und dabei höre ich mein Herz hämmern: Gerettet - hopf-hopf-hopf! Ilja, der älteste der vier Strittmatter-Söhne, kommt mir zu Hilfe gestürzt und will schnell wissen, ob ich das Lassowerfen ihm beibringen könnte. Natürlich bekommt er auf der Stelle ein großzügiges Versprechen. So sicher ich mich dabei auch gebärde, spüre ich doch ein heftiges Zittern in mir, das sich später immer wieder meldet, so oft mir jener Wurf meines Lebens einfällt, der nicht aufhört, mir schicksalhaft zu erscheinen. Dabei wird mir jedes Mal ein wenig schlecht: Denn es hätte ja auch so leicht schiefgehen können! Doch manchmal kommt mir dieses nachträgliche In-Zweifel-ziehen-Wollen eines Glücksfalles fehl am Platz, stillfurzig und hasenherzig vor: Nicht im Geringsten ist es doch erlogen, wenn ich von mir behaupte, mit dem Pferd zwischen den Schenkeln und dem Lassostrick um die Schulter aufgewachsen zu sein, und so wäre eher das Gegenteil, wenn also der Wurf daneben geflogen wäre, seltsam gewesen! So gesehen, habe ich an dem Treffer, den ich an jenem sonnigen Nachmittag inmitten eines verregneten Herbstes erzielen durfte, vorgearbeitet, und es war ein verdienter Erfolg. Vielleicht war es tatsächlich kein Zufall, dass ich das Fohlen mit dem ersten Wurf fing. Und wer will mir beweisen, dass auch die Begegnung zwischen dem Kind eines Steppennomaden und dem drei Jahrzehnte vor ihm auf die Welt gekommenen Sprössling eines deutschen Bäckers und Kleinbauern auch ein Zufall war? Ich für meinen Teil weiß: Zufall ist das, was einem zufällt. Die Tuwa sagen Die Tuwa sagen: Nicht alles, was ein Geweih überm Schädel trägt, darf gleich ein Hirsch sein. Zerschlag ihm die Beine, zerstich ihm die Lunge, zerquetsche ihm das Herz. Trotzt er, bis der letzte Hauch Leben ihn verlässt, der Saugkraft der Erde, ohne das Geweih dem Fall freizugeben, dann ist es doch ein Hirsch. Die Tuwa sagen: Nicht alles, was sich hart anfasst und schwer drückt, braucht Eisen zu sein. Schmeiß es ins Wasser, schmeiß es ins Feuer, zersäg und zerschlag es in Splitter. Wirft es auch dann Funken, dann ist es tatsächlich Stahl. Die Tuwa sagen: Nicht jeder, der stehend pisst, muss ein Mann sein. Lass ihn vor den Fürsten treten, lass ihm die Ehefrau weglaufen und das Reitross krepieren. Bleibt er auch dann gerade stehen, ist er allerdings ein Mann. Geschenk Ein Vater schenkt seinem Kind zum Geburtstag eine Aloe, in der Landessprache »Hundertjähriges« genannt. Von der Pflanze heißt es nämlich, alle hundert Jahre würde sie einmal Blüten treiben. Nachdem der Vater diese Geschichte erzählt hat, will das Kind natürlich noch wissen, wie lange das sei. Ja, hundert Jahre sind lang, gibt der Vater zu, ohne zu ahnen, welche weiteren Fragen darauf folgen würden. Es fängt an zu bohren: Wie lange genau? So lang wie das Kleinfingerchen des Kindes oder wie der Mittelfinger des Vaters? »Seit du geboren bist, sind drei Jahre vergangen«, versucht der Vater, eine mathematische Antwort abzugeben. »Wenn dreiunddreißigmal so viel Zeit vergeht, wie du schon gelebt hast und noch ein Jahr dazu, dann sind die hundert Jahre um!« Solches geht am kindlichen Verstand vorbei. Da bricht der Erwachsene ein Stück Streichholz in zwei Teile und legt die längere Hälfte auf den Tisch. Der Tisch ist einen Meter lang. Nun geht die Erklärung weiter: »Das Streichholz sind deine drei Jahre und der Tisch die hundert.« Ein wenigstens ungefähres Verständnis muss zustande gekommen sein, denn die Antwort des Kindes lautet darauf: »Hundert Jahre sind sehr lang!« »Ja, hundert Jahre sind sehr lang«, bestätigt ihm der Erwachsene, »kein Mensch lebt so lange!« »Warum nicht?«, fährt das Kind erschrocken auf. Seine sonst schmalen und hell glänzenden Augen wirken mit einem Mal rund und dunkel. »Nun ja«, weicht der Erwachsene aus, »es gibt Menschen, die noch länger leben als hundert Jahre.« »Seht Ihr?«, sagt das Kind ein wenig beruhigt. Und rückt mit dem Eigentlichen endlich heraus: »Die Blüte werde ich Euch, Vater, zurückschenken!« Der Erwachsene kann den Gedanken schlecht ertragen, dass er in hundert Jahren immer noch da sein könnte. So sagt er unsicher: »Du sprichst deinem Vater, der inzwischen die Dreißig schon überschritten hat, ein so langes Leben zu?« »Ja!«, kommt ihm das Kind willig entgegen. »Auch Mutter und Brüderchen, Großvater und Großmutter, wir werden alle da sein, wir werden immer da sein, Vater!« Diese Bestimmtheit des Kindes bringt den Erwachsenen auf einen Gedanken, den er noch nie zu denken gewagt hat: Muss man denn immer bei der langweiligen, gemeinen Wahrheit bleiben wie ein angebundenes Pferd am Pflock? Sich von der schweren, gemeinen Wahrheit immer flachwälzen lassen und selbst einem Geburtstag feiernden Kind die Freude zerstören? Ist denn die Wahrheit immer wahr gewesen, und muss sie es auch weiterhin bleiben? Ab da lässt sich der Erwachsene von dem Kinde führen. Es kommt eine gute Unterhaltung zustande, und es wird eine schöne Geburtstagsfeier.
Galsan Tschinag (Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa), geboren 1943 als Sohn einer Nomadenfamilie in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Zunächst studierte er an der Universität von Ulan Bator. 1962 kam er als Stipendiat der Mongolischen Volksrepublik ans Herder Institut in Leipzig, um Deutsch zu lernen. Anschließend studierte er Germanistik an der Karl-Marx-Universität. Während seines Aufenthaltes in der DDR lernte er auch Eva und Erwin Strittmatter kennen. Seither schreibt er viele seiner literarischen Texte in deutscher Sprache. Nach seiner Rückkehr in die Heimat lehrte er zunächst an der Staatsuniversität, bekam aber 1976 aus politischen Gründen Berufsverbot. Er arbeitete als Kommentator, Lektor, Übersetzer - zum Beispiel von Gedichten Kurt Tucholskys, Heinrich Manns »Der Untertan«, Erwin Strittmatters »Pony Pedro«, Stephan Hermlins »Abendlicht«. Von 1987 bis 1990 war er Herausgeber der Zeitschrift »Setgüültsch«, die das erste Perestroika-Organ des Landes war. Seit 1991 lebt Galsan Tschinag als freier Schriftsteller einen Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaan Baatar und verbringt die restlichen Monate als Nomade mit seiner Sippe im Altai beziehungsweise auf Lesereisen im Ausland. Sein Lebenstraum, die alte Kultur der Tuwa-Nomaden zu erhalten, wurde 1996 zum Teil erfüllt. Als Stammesfürst führte er auf zweimonatiger Reise Teile seines Volkes in einer riesigen Karawane 2000 Kilometer zurück in die ursprüngliche Heimat, das Altai-Gebirge. Darüber schrieb er in seinem Buch »Die Karawane«. Galsan Tschinag ist ein äußerst produktiver Schriftsteller. Viele seiner Bücher sind autobiografisch geprägt. Die hier veröffentlichten Erzählungen sind ein Vorgeschmack auf seinen Band »Auf der großen blauen Straße«, der Anfang Februar im Unionsverlag Zürich erscheinen soll. Fast zeitgleich kommt im Insel Verlag sein großer Roman »Die neun Träume des Dschingis Khan« heraus, in dem er den sterbenden Weltherrscher auf seine Erfolge und Niederlagen, auf seine Hoffnungen und seine Ängste zurückblicken lässt.
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