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Vergesst mir die Seele nicht!

Bad Wörishofen und Sebastian Kneipp

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Das kann nur ein Albtraum sein: Kurz nach 5 Uhr morgens säuselt mir eine sanfte Stimme ins Ohr, ich möchte mich mal kurz aufsetzen. Wie in Trance folge ich der Bitte, und noch ehe ich richtig begreife, was passiert, gleitet ein eiskalter nasser Lappen über meine Arme und den Oberkörper. Schlagartig bin ich putzmunter, doch nicht lange. »Ich pack Sie jetzt wieder ein«, wispert es erneut, »schlafen Sie schön weiter.« Der letzte Halbsatz erreicht mich schon nur noch wie durch eine dicke Watteschicht, bevor ich wieder wegdämmere.

Zwei Stunden später erfahre ich, dass die Oberkörperwaschung eine von rund 120 verschiedenen Kneippanwendungen ist, durchblutungsfördernd und wärmeregulierend wirkt, das Immunsystem stärkt, das Herz entlastet und den Kreislauf anregt. Diese Erklärung lenkt mich gut von dem nächsten morgendlichen Schock ab - dem Schenkelguss. Diesmal im Wechsel warm und eiskalt. Er soll die Beinmuskulatur lockern, gegen Arthrose in der Hüfte sowie im Knie vorbeugen, bei entzündlichen Ischias- oder Rückenbeschwerden helfen sowie beruhigen und das Einschlafen fördern. Gleich gibt’s Frühstück, freue ich mich. Doch die Badefrau im Bad Wörishofener »Kneippianum«, wo ich für ein paar Tage eine Schnupperkur gebucht habe, schickt mich für die nächste halbe Stunde wieder ins Bett. Sofort ist mir Pfarrer Sebastian Kneipp, der sich das alles vor rund 170 Jahren ausgedacht hat, unglaublich sympathisch. Denn wann darf man sich als Berufstätige morgens noch mal ohne schlechtes Gewissen ins warme Bett kuscheln?

Wer weiß, ob es heute Kneippkuren gäbe, wäre der 28-jährige Theologiestudent Sebastian Kneipp aus Stephansried im Allgäu nicht 1849 an Tuberkulose erkrankt, die damals als unheilbar galt. Schon ziemlich geschwächt und von den Ärzten bereits aufgegeben, entdeckt er in der Bibliothek des Münchener Priesterseminars das Buch »Unterricht von Krafft und Wirkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen insbesondere der Kranken«, das der schlesische Arzt Johann Siegmund Hahn 1738 schrieb. Kneipp hat nichts mehr zu verlieren, und testet das Gelesene an sich selbst. Mitten im Winter steigt er täglich kurz in die eiskalte Donau - und wird tatsächlich gesund. Mehrere Kommilitonen heilt er mit der gleichen Methode, und später in Boos, einem kleinen Ort im Allgäu, wo der junge Priester eine Stelle bekam, behandelt er erfolgreich zahlreiche Kranke mit Gicht, Lungenerkrankungen und Cholera mit seiner Wassertherapie. Was zunehmend die Missgunst von Apothekern und Ärzten erweckt, die ihn wegen Kurpfuscherei anzeigen. Der Richter, der ihm offiziell weitere Behandlungen untersagt, nimmt Kneipp jedoch nach dem Urteilsspruch zur Seite, zeigt ihm seine dicken Hände und hofft auf einen Therapievorschlag. Kneipp, wütend darüber, dass man ihm verbietet, was doch nachweislich heilen hilft, schaut ihn an und sagt: »Das ist Gicht. Hören Sie auf zu saufen!«

1855 wird der Pfarrer als Beichtvater ins Dominikanerinnenkloster Wörishofen versetzt. Hier baut er die Landwirtschaft wieder auf, unterweist die Schwestern im Veredeln von Bäumen und in der Imkerei. Und trotz aller Verbote entwickelt er seine Naturheilkunde weiter. Längst hat sich sein Ruf herumgesprochen, immer mehr Hilfesuchende kommen nach Wörishofen. Erst recht, als 1886 sein erstes Buch »Meine Wasserkur« erscheint, ein Kompendium seines gesammelten Wissens, das später in 17 Sprachen übersetzt weltweit ein Bestseller wird. 1890 gründet sich in Wörishofen der erste Kneipp-Verein, zwischen 1889 und 1897 entstehen drei von Kneipp initiierte Stiftungen: Das »Sebastianeum«, die Kneippsche Kinderheilstätte und das »Kneippianum«. Alle drei Einrichtungen gibt es noch heute, und eine Kur dort ist für manchen seit Jahren ein fester Termin im Kalender.

Die vier putzmunteren älteren Herren am Tisch im Speisezimmer neben mir beispielsweise haben sich vor 30 Jahren hier bei ihrer ersten Kneippkur kennengelernt und treffen sich seitdem alljährlich im Januar zum Kneippen und um die Freundschaft und das Leben zu genießen. Wenngleich das Durchschnittsalter der Kneippianer noch immer zwischen 50 und 60 Jahren liegt, schwören zunehmend auch Jüngere auf das Naturheilverfahren. Die gebürtige Berlinerin Sandra Peschel, die seit Jahren in der Schweiz lebt, gehört dazu. Eine Freundin gab ihr 2011 den Tipp, im Juni dieses Jahres wird die 42-Jährige zum 17. Mal im »Kneippianum« einchecken. »Hier kann ich runterkommen«, sagt die Krankenschwester, »hier tanke ich die Kraft, die ich für meinen stressigen Beruf brauche. Für mich ist es immer wie nach Hause kommen, wo man rundherum verwöhnt wird.«

Das hätte Kneipp gut gefallen. »Natur ist die beste Medizin«, war er überzeugt und schwor auf sein ganzheitliches Naturheilverfahren, das damals wie heute auf fünf Säulen basiert: Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilpflanzen und Balance für Körper und Seele. »Vergesst mir die Seele nicht!«, predigte er und meinte damit auch, das Leben zu genießen. So, wie er es selbst tat. Wer denkt, Sebastian Kneipp war ein freudloser Asket, wird schon eines besseren belehrt, wenn er das »Kneippianum« betritt. Als beleibter und rauchender Mann begrüßt der Pfarrer vom Foto seine Gäste. Er aß gern und qualmte, was das Zeug hält. Von einem Kurgast einmal befragt, warum er so viel rauche, antwortete Kneipp schlagfertig: »Wenn Sie sich öfter waschen würden, müsste ich nicht so viel rauchen.«

Bad Wörishofen wurde 1890 zum ersten Kneipp-Kurort Deutschlands. Inzwischen gibt es bundesweit mehr als 50, doch nirgendwo begegnet man dem Begründer des ganzheitlichen Naturheilverfahrens so auf Schritt und Tritt wie in seinem ehemaligen Wirkungsort. Allein 22 öffentliche Kneippanlagen gibt es im Stadtgebiet. Unbedingt besuchen sollte man das Kneipp-Museum im Kloster, und bei einer Stadtführung erfährt man viele Geschichten und Schnorren rund um den »Vater« des heute wieder sehr gefragten Naturheilverfahrens, das im vergangenen Jahr von der UNESCO zum »immateriellen Kulturerbe« ernannt wurde.

Auch ich bin Kneipp schon nach kurzer Zeit verfallen, nächtliche kalte Güsse oder warme Wickel schrecken mich schon am zweiten Tag nicht mehr. Im Gegenteil: Ich genieße sie ebenso, wie die hervorragende Küche, die Spaziergänge im 163 000 Quadratmeter großen Kurpark, das rundrum bemuttert werden, den Kuchen am Nachmittag und das abendliche Glas Wein. Dass ich wiederkomme, ist beschlossene Sache.

Infos

Kur- und Tourismusbetrieb Bad Wörishofen: www.bad-woerishofen.de

Kneipp-Gesundheitsresort Kneippianum: www.kneippianum.de Hier findet man Angebote von der Wochenendschnupper- bis zur dreiwöchigen Intensivkneippkur.

Kneipp-Museum: www.kneippmuseum.de

Zum 120. Todestag Sebastian Kneipps hat am 10. Juni 2017 ein Musical über den Gesundheitspfarrer an Originalschauplätzen seines Schaffens in Bad Wörishofen seine Premiere. Infos unter: www.kneipp-musical.de

Tipp: Bei einem Besuch in Bad Wörishofen sollte man unbedingt auch die Südseetherme des Ortes mit ihrer außergewöhnlichen Saunalandschaft besuchen. www.therme-badwoerishofen.de

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