Die Zwiebel, die sich selber schält

Am Landestheater Neustrelitz: Schillers »Maria Stuart«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der linke Mensch braucht Theorien, Thesen und Traktate. Jüngste politische Pamphlete (auch in dieser Zeitung) schwingen lüstern die Volkstrennsäge. Denn da muss doch ideologische Ordnung reinzubringen sein: Man propagiert ein gutes »Volk der Linken« - und feilt so an klarer Kante gegen das verderbte »Volk der Rechten«. Man spintisiert sich ein Begriffseigentum herbei und hält dies leidenschaftlich für Wirklichkeit. Das deutsche Reinheitsgebot lacht, wendet sich ab (also dem Volke zu) und bleibt lieber beim Bier.

Gedanken zum Volk sind unumgänglich, wenn man Friedrich Schillers »Maria Stuart« sieht. Zum Beispiel derzeit am Landestheater Neubrandenburg/Neustrelitz. Hektische Dispute, dazu das Murmeln der Massen vorm Palast. Die Königin und ihre Funktionäre wechseln ständig die Bezeichnung: »das Volk ... der Pöbel ... die Menge ... mein Volk«. Das bleibt ein verknäultes Ding. Ist drängende Kraft und trübe Brache. Projektionsfläche und pragmatischer Lümmel. Wie stets: Wer das Volk befreien wollte, hat es doch nie begriffen; wer es erziehen wollte, hat es doch nie geliebt. Wer es erzog, hat es nie befreit; und wer es je begriff, konnte es niemals mehr lieben.

Goethe nannte die Französische Revolution das entsetzlichste Ereignis seines Lebens. Schiller, der Enthusiast, benötigte für seine Enttäuschung einige Zeit. Mit »Maria Stuart« schrieb er die sich von der Seele. Aus Revolutionären waren Schreckensmänner geworden, und so zeichnete er eine Immerdar-Welt: Fortschrittler, die Weichen stellen wollten, legten Leichen aus. Statt eines machtvollen Geschäfts der Politik nur eine miese Politik des mächtigen Geschäfts.

In Neustrelitz inszenierte Marco Bahr (Ausstattung: Peter Sommerer). Die Bühne bietet Seitenwände aus grauen Steinblöcken. Als ziegle sich ein Bunker mit Marmor auf und hoffte, er gehe trotzdem noch durch als Palast. Hinten eine Glasveranda mit Quergang und tiefem Blick ins kalte Wesenlose. Königin Elisabeth tritt im Ornat aus Gold auf, nein, das Ornat tritt auf, das Weib darunter: in aufrechter Arroganz erfroren. Gewitzt: Elisabeth steigt aus ihrer Prunkrüstung, das goldene Kostüm steht leer auf der Bühne, wird hochgezogen, hängt fortan über der Szene: das Damokleskleid.

Elisabeth hält Maria Stuart gefangen, die Königin von Schottland, mutmaßliche Mörderin ihres Mannes. Sie war zu Elisabeth geflüchtet - die in ihr aber die Rivalin fürchten muss. Immer wieder gab es Versuche, die katholische Stuart zu befreien und Elisabeth, die Protestantin, zu ermorden. Der letzte Plan, begeistert organisiert von Mortimer, zaudernd unterstützt von Leicester, wird aufgedeckt - Mortimer bringt sich um, Leicester lügt sich aus der Schlinge, Maria wird hingerichtet. Elisabeth triumphiert, aber sehr bitter: Leicester flieht, andere Lords werden verbannt oder quittieren angeekelt ihren Dienst.

Karin Hartmann spielt diese Elisabeth, und es ist der Atemraubzug des Abends. Die Regie korrigiert Schiller. Der hatte die beiden Königinnen aus verständlichen Attraktivitätsgründen verjüngt - der Dichter als Lift-Boy. In Neustrelitz aber wird der Realität gefolgt, Elisabeth ist über fünfzig, Maria über vierzig. Und die so leistungsattraktive Karin Hartmann korrigiert Schiller ein zweites Mal: Das Stück heißt hier im Grunde »Elisabeth«.

Ein starkes Zeichen, wenn sie - geplagt von Unentschiedenheit über die Tragweite des Todesurteils gegen die Stuart, also eingekeilt zwischen den Kalkülen - sich immer weiter aus den Hüllen der Repräsentanz schält. Eine Matrone zwischen Machtbewusstsein und Gnädigkeit. Und Hilflosigkeit. Ein Kleidungsstück nach dem anderen knüpft sie auf, wirft es ab, nervös, hitzewallend, als sei sie Peer Gynts Zwiebel, die sich selber schält, der Wahrheit ihres verstaatlichten Herzens auf den Grund zu kommen. Pustet sich Luft in den Ausschnitt, rollt mit den Augen, bläst die Backen, lässt das Kinn klappen, scheint zu überlegen, wer sie ist - Wassa Shelesnowa, Celestine, Hekuba, Bernarda Alba? Alle, nur nicht diese Elisabeth! Oder doch, unbedingt Elisabeth!, aber die in aller Farbigkeit, in aller weiblichen Kraft und in aller liebenden Einsamkeit.

Inmitten einer Inszenierung, der die bloßgelegten Strukturen am wichtigsten sind, pfundet die faszinierende Karin Hartmann mit Seele. Auf einer Schaufläche der kalt lauernden Standbilder trippelt, wankt, stampft, bibbert, blubbert und bebt sie. Ohne Scheu vor Komik, ohne Übertreibung des Tragischen - und just deshalb so bezwingend. Zum Schluss ist sie eine Gezeichnete. Siegreich allein. Siegreich verhuckt, an der Wand zusammengesunken zu einem Knäuel Angst. Weißgeschminktes Gesicht, das Unterkleid als nackte Unbeholfenheit - die Königin wie eine Schauspielerin, die ohne allen Aufputz nach einer neuen Rolle sucht. Es bleibt aber nur dies Trauerspiel.

Isolde Wabra ist Maria Stuart. Kräftiger Trotz, freche Hochköpfigkeit. Sie träumt Freiheit, dass es schon etwas töricht Freches hat. So tapfer im Gerechtigkeitsglauben wie im Blindheitselan, wenn es um die Fehleinschätzung der eigenen Lage geht. Man sagt dazu wohl neuerdings: »alternative Fakten«.

Die Kabinetts-Personage ist pure Falschheit. Diplomatie der Leisetreter in chemieglänzenden Anzügen. Lords? Exakt programmierte Stanzen der Gefügigkeit. Freilich: Dass Elisabeths Maskenmänner und Männermasken oft wie angewurzelt stehen - es ist bei aller frostigen Zeichenklarheit eine Frage wert: Wie viel schauspielerischer Eigensinn wäre in solch »befohlenem« Minimalismus möglich? Man ersehnt ein wenig mehr Lodern oder Signale der Qual, dies Lodern aus Staatsräson (und Feigheit) löschen zu sollen. Im Apparat der zynischen Vernunft brodelt doch auch Begierde, die mit politischem Auftragszwang allein nicht erklärbar ist. Wobei im Konzeptionskorsett Eindrückliches nachhallt: Der lächelfiese, geradezu glättegeile Burleigh des Sven Jeckel. Oder der watteweich opportunistische Leicester des Michael Goralczyk. Und Felix Caspar Krause als heimlicher Rebell Mortimer, mit dem armschwingenden Pathos des eifrig klugen, freilich überdrehten Machers.

Die Königinnen in historischen Kleidern: Es war einmal. Der Hofstaat aber modern: Was war, bedingt uns; wir sind nicht weiter, wir sind nur später. Die Tücken der Zeitalter bestehen im Schillern des Austauschbaren. Nie lehrt Geschichte, was wir tun sollen, aber sehr wohl (auch mit dieser sehenswerten Inszenierung), womit wir jederzeit rechnen müssen.

Nächste Vorstellungen: 4., 21.3. (Neustrelitz), 15.3. (Neubrandenburg)

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal