Zu blöd zum Brötchenholen

Heute und morgen liest der formenstrenge Lyriker Thomas Gsella in der ufa-Fabrik seine Natur- und Stadtgedichte

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Die meisten ahnen es, doch kaum einer traut sich, es offen auszusprechen: Deutschland ist in Fragen moderner Lyrik eine Art Entwicklungsland geblieben. Schon seit Günter Eich nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem selbstmitleidigen Jammergedicht »Inventur« (»Konservenbüchse: / mein Teller, mein Becher, / ich hab in das Weißblech / den Namen geritzt«) das Bild des Deutschen als wahrem Opfer des Krieges heraufbeschwor, das von der hiesigen literaturverarbeitenden Industrie und den ihr angeschlossenen Lesern dankbar aufgegriffen wurde, beherrscht hierzulande eine Lyrik den Markt und die Universitätsseminare, die zumeist folgende wesentliche Eigenschaften aufweist: (1) einen Hang zur Selbstbespiegelung, (2) zu Wehleidigkeit, (3) zu Sentimentalität und Kitsch, (4) zu Gespreiztheit und Wichtigtuerei. Und da kann man auch nichts machen. Die Kundschaft liest derlei nun mal gerne: den handelsüblichen die Seele streichelnden Erbaulichkeitsrotz, übles Zeug, das den jeweiligen Verfasser als Empfindsamkeitsweltmeister ausweisen soll und mit dem man niemanden auf den Schlips tritt, oder, noch schlimmer: Befindlichkeitsquatsch, wahlweise mit Goldrand, mit stark rührseliger Note oder mit beidem versehen, Verse, die etwa als »Verschenktexte«, »Verse zum Gedankentanken« oder Schlimmeres daherkommen. Da passt es, dass die derzeit in Deutschland meistgelesenen und -verkauften Gedichte aus der Feder der »Poetry-Slammerin« und Nervensäge Julia Engelmann stammen. »Der junge Stern am Pop-Poetry-Slam-Himmel« (BR) »verzaubert« (»Brigitte«) sein Publikum oder »rührt« es wahlweise »zu Tränen« (NDR), hat also bei den Zuhörern, um es einmal schleim- und zuckerwattefrei zu formulieren, ungefähr dieselbe Wirkung, die »Die Wacht am Rhein« auf Altnazis hat, die sich im Freizeitraum des Seniorenheims ihre Lieblingsvolksmusiksendung ansehen.

Natürlich gab und gibt es die bekannten Ausnahmen, von Dieter Roth über Rolf Dieter Brinkmann und die Dichter der sogenannten Neuen Frankfurter Schule bis zu Ror Wolf, doch deren Werke spielen, was den Bekanntheitsgrad und die Verkaufszahlen angeht, eine untergeordnete Rolle.

Versuche von Autoren und Autorinnen, die Grundtendenz deutscher Gedichteschreiberinnen und -schreiber zum Schwermütigen und Larmoyanten, zum esoterischen Geraune oder zum extremen Bedeutungsüberhang zu missachten und sich sowohl neuer Formen als auch anderer als der üblichen öden Inhalte (Selbstbespiegelung, Liebesnöte, »feinsinnige Alltagsbeobachtungen« usw.) zu bedienen, haben natürlich wiederholt stattgefunden, doch diese Versuche haben bis heute zumeist wenig Beachtung gefunden. In Deutschland am beliebtesten sind nach wie vor das herzerwärmende Lebenshilfe- oder Kitschgedicht und die bleierne Tränensacklyrik.

Einer, der da mit seiner rundum modernen und grundehrlichen Natur- und Städtebeleidigungslyrik positiv hervorsticht, ist der Dichter Thomas Gsella, über den sein Kollege Robert Gernhardt einst schrieb: »Längst ist er kein Gsella mehr, schon seit langem darf er sich Meista nennen.«

Gsella, der seit Anfang der 90er Jahre für das Satiremagazin »Titanic« schreibt, dort außerdem von 2005 bis 2008 Chefredakteur war und dessen Gedichte heute über unterschiedliche Rundfunksendungen und Druckerzeugnisse (»Stern«, »Süddeutsche Zeitung«, »Das Magazin« (Schweiz)) verteilt sind, hält - das ist seiner Lyrik anzumerken - ebenso wenig von freihändig zusammenassoziierten und achtlos hingeschmierten reimlosen Versen wie von der Vortäuschung verlogenen Tiefsinns.

Sein Augenmerk als traditionell streng entlang klassischer und bewährter Formen arbeitender Lyriker gilt voll und ganz der sozialen Wirklichkeit bzw. unserer natürlichen Umgebung. Beispielsweise dem hochgradig überschätzten Naturphänomen Gebüsch: »Zwar nerven Acker, Strauch und Baum, / Doch schenken sie uns Speisen. / Gebüsch verstopft den Lebensraum / Und hat nichts vorzuweisen.« Oder dem, besieht man es recht, vollkommen überflüssigen Zentralgestirn Sonne: »Sie scheint zu dunkel in der Nacht / Und viel zu hell am Tage / Ein Teufel hat sie ausgedacht / Als größte Menschenplage.« Ach ja, apropos Mensch: »Die Gattung hatte hohe Stirn / Und tiefere Gefühle, / Bizarr gewuchertes Gehirn / Und eine Globusmühle. // Sie rottete die Wälder aus, / Die Lüfte und die Meere, / Die Kälber und sich selber aus, / Das rettet ihre Ehre.«

In seinem Gedicht »Der deutsche vs. der arabische Mann«, in dem er das Wesen des deutschen Mannes charakterisiert, insbesondere dessen Vorliebe für geistige Getränke und die deutsche Leitkultur, heißt es etwa: »Der deutsche ist ein guter Mann: / Er hält die Frau in Ehren. / Er zündet Flüchtlingsheime an / Und gründet Bürgerwehren. // Der Araber kennt Goethe nicht / Und Kraut und Schinkenhäger. / Der deutsche Mann liebt das Gedicht / So wie den Baseballschläger.«

Nicht anders in Gsellas Stadtgedichten, bei denen der Schwerpunkt stets auf die spezifische Besonderheit des beschriebenen Ortes gelegt wird und große Präzision bei der möglichst realistischen Darstellung der jeweiligen Bewohnerschaft herrscht. Es folgt ein Auszug aus dem Gedicht »Gießen«: »Die klugen Geister froh und frei, / Die Herzen überborden. / Dass Leben gut und glücklich sei: / Hier ist es wahr geworden. // Ein Ort, so süß wie dies Poem, / Da Milch und Honig fließen. / Als Gegenstück zu alledem / Und widerlich gilt Gießen.«

Und auch zur Hauptstadt Berlin und ihren Bewohnern findet Gsella, wie durch Zauberhand gefügt, die richtigen Worte: »Sie können nichts und wissen nichts / Und sind zu dumm zum Siezen. / Sie hoffen nichts und missen nichts / Und schimmeln in den Kiezen // Und sind, dem Herrgott sei›s geklagt, / Zu blöd zum Brötchenholen. / Wer Hauptstadt der Versager sagt, / Der meint Berlin (bei Polen).«

Thomas Gsella liest »das Allerbeste aus 50 Jahren«: 8. und 9. März, jeweils 20 Uhr, ufa-Fabrik, Tempelhof. Vor kurzem erschienen zwei neue Lyrikbände von ihm:

Thomas Gsella: Saukopf Natur. Verlag Antje Kunstmann, 160 S., geb., 16 €.

Thomas Gsella: Von Aachen bis Zzwickau. Ihre Stadt im Schmähgedicht. jmb-Verlag, 134 S., br., 9,95 €.

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