Erdogan: »Das sind Nachfahren der Nazis«

Opposition befürchtet, dass Auftrittsverbote türkischen Staatspräsidenten bei Verfassungsreform nutzen

  • Jan Keetmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Empörung über die verhinderten Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in der niederländischen Stadt Rotterdam ist groß und wird weiter angefacht. »Das sind Nachfahren der Nazis, das sind Faschisten«, brüllte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul in die Menge. Rotterdams muslimisches Stadtoberhaupt Ahmed Aboutaleb erwiderte: »Sie haben vergessen, dass ich Bürgermeister einer Stadt bin, die von den Nazis bombardiert wurde.« Aber mit der Geschichte nahm es Erdogan noch nie so genau, und seine Anhänger im Istanbuler Stadtteil Bagcilar sind begeistert.

Als Reaktion auf die diplomatische Krise mit der Regierung in Den Haag riegelten türkische Behörden am Samstag die niederländische Botschaft in Ankara und das Konsulat in Istanbul ab, und es fanden sich auch gleich jeweils ein paar Hundert fahnenschwingende Demonstranten vor den Gebäuden ein. Erdogan drohte, das Landeverbot des Flugzeuges des türkischen Außenministers Cevusoglu in den Niederlanden, in gleicher Weise zu beantworten.

Von der Webseite der Tageszeitung »Hürriyet« blickte ein bitterböser Erdogan, im Hintergrund russische Raketen. Der Hintergrund: die in der NATO umstrittene mögliche Anschaffung russischer S-400 Raketen durch die Türkei. Die Botschaft war klar: »Wir können auch ganz anders«.

Aber es sind nicht nur Erdogan und seine Partei, die AKP, die toben. Auch die oppositionelle CHP verurteilte die Auftrittsverbote und sagte selbst Wahlkampfauftritte in Europa ab. Schließlich sieht auch die kleine Schar der verbliebenen kritischen Kommentatoren die Wahl am kommenden Mittwoch in den Niederlanden und zum Teil auch die Bundestagswahl in Deutschland im September als eigentlichen Grund für die Auftrittsverbote.

Nilgün Cerrahoglu fand es in der Zeitung »Cumhuriyet« für nötig, einmal daran zu erinnern, dass der gleiche Erdogan, der den Niederlanden »Faschismus« vorwirft, Nazi-Deutschland als Beispiel für das von ihm angestrebte Präsidialsystem genannt hat. Mit seinen Übertreibungen würde Erdogan Agitatoren wie Geert Wilders in den Niederlanden nur Butter aufs Brot streichen, so Cerrahoglu. Und ihr Kollege Aydin Engin, der nach dem Putsch von 1980 lange in Deutschland im Exil lebte, erinnert daran, dass die politischen Beziehungen zu Ländern wie Russland, Katar und Saudi-Arabien immer besser werden, während mit Europa wohl nur noch die Handelsbeziehungen gepflegt würden. Er fragt sich, ob das »EU-Abenteuer« der Türkei nur vorübergehend ausgesetzt sei.

Allgemeiner Tenor bei der Opposition ist indessen, dass die Verbote Erdogan bei seiner Kampagne für eine Verfassungsreform nur nutzen. Außerdem könne sie Erdogan glänzend gebrauchen, um Vorwürfe wegen mangelnder Demokratie in der Türkei mit Wendungen wie »Ist das die Demokratie, von der ihr gesprochen habt?« abzuweisen.

In der Türkei selbst gibt es ja durchaus auch Verbote. Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek hat alle Auftritte der Kampagne, die sich gegen Erdogans Verfassungsreform richtet, aus Sicherheitsgründen verboten. In Istanbul musste die Kampagne ein Schiff mieten, weil ihnen die Stadtverwaltung keine Räume zugestanden hat. Bei der prokurdischen HDP fehlt es für die Unterstützung der Nein-Kampagne nicht nur an Räumen und zugelassenen Versammlungen, sondern auch schlicht am Personal. Viele führende Politiker der Partei sitzen im Gefängnis.

Bei aller Kritik an Erdogans Umgang mit der Opposition einerseits und den Zielen seines Referendums andererseits, ist es jedoch bemerkenswert, mit welcher Sturheit beide Seiten an der Eskalation in den Niederlanden gearbeitet haben: die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya, die unbedingt auf eine nicht erlaubte Veranstaltung wollte, auf der Straße nicht einfach umkehrte, als ihr die niederländische Polizei die Weiterfahrt verwehrte, bis sie schließlich als unerwünschte Person zur deutschen Grenze eskortiert wurde. Auf der anderen Seite die Regierung in Den Haag, die ebenfalls keinen Zoll nachgab. Gut denkbar, dass das alles ganz anders verlaufen wäre, wenn am Mittwoch die Niederländer nicht ein neues Parlament wählen würden.

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