Die Sache mit der Besonnenheit

Stiche in der Herzgegend, Sorge um die Demokratie - und die Gefahr allzu grober Raster: Erste Anmerkungen zum Ausgang des Referendums in der Türkei

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Nach dem Referendum in der Türkei mahnt die Bundesregierung zur »Besonnenheit« - und das verursacht erst einmal einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend: Wie soll man da jetzt »kühlen Kopf« bewahren, wo doch ein Land Richtung Diktatur marschiert, wo eine Abstimmung darüber manipuliert erscheint, wo unklar ist, was mit Journalistenkollegen und politischen Freunden jetzt geschieht, wo man noch Schlimmeres fürchten muss, wo sich so viele Fragen stellen, die nach Antworten, mehr noch: nach raschen Konsequenzen rufen?

Die EU-Beitrittsgespräche, die NATO-Mitgliedschaft, das Verhältnis zu den Deutschtürken hierzulande, die mehrheitlich für den Weg Richtung Erdogans Autokratie gestimmt haben, der so genannte Flüchtlingspakt, die Rolle Ankaras in der Region, die internationalen Verflechtungen, die Konflikte, der Krieg gegen die Kurden - es ist ja verständlich, wenn so viele politisch drängende, ernste Angelegenheiten nun mit dem Ja-Referendum zu einer Art Höhepunkt getrieben wurden, darauf auch unmittelbar reagieren zu wollen.

Aber vielleicht ist die Sache mit der Besonnenheit doch keine schlechte Idee. Das schafft Raum, sich über ein paar Antworten klar zu werden. Was, um mit dieser Frage zu beginnen, wäre konkret gewonnen, wenn jetzt Beitrittsgespräche zur EU endgültig suspendiert würden? Könnte man nicht auch sagen, die Lage wäre heute eine andere, wären sie in der Vergangenheit schneller vorangekommen? Dass dies nicht so war, lag keineswegs nur in der Verantwortung der türkischen Seite, sondern war immer Ergebnis hiesiger politischer Interessen, die solche Beitrittsgespräche zum Spielball machten.

Eine Rolle dabei spielte das Verhältnis zu den hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln, mit türkischem Pass. Sie wurden immer wieder einmal dafür benutzt, Stimmungslagen der Deutschen nach rechts hin zu politisieren. Man muss dafür nicht bis zur Hessen-CDU und Roland Koch zurückgehen, der gegen den Doppelpass Front machte – so etwas wird in der Union auch heute noch erwogen. Die ersten Reaktionen auf die Abstimmungsergebnisse in der Türkei fielen auch gleich in dieses Raster: Unmöglich, diese Deutschtürken! Und war da nicht auch was mit dem Wahlkampf?

Wer sich die Ergebnisse des Referendums hierzulande besonnen anschaut, wird nicht leichtfertig Sätze aufsagen wollen wie: »Die Deutschtürken haben aus der sicheren, weil demokratisch-rechtsstaatlichen Bundesrepublik für die Einführung diktatorischer Befugnisse in einem Land gestimmt, in das sie nur noch zum Urlaub fahren.« Die Deutschtürken? Dass genau in diese Kerbe jetzt verbal geschlagen wird, nämlich alle Menschen mit türkischen Wurzeln auf diese Weise über den Kamm der »Integrationsunwilligkeit« geschoren werden, illustriert nur das lange vorher schon existierende Problem: Wer immerzu nach Integration ruft, dabei aber lediglich eine Bringschuld der anderen meint, interessiert sich selber meist überhaupt nicht für diese Menschen.

Bei existierendem Interesse könnte man zum Beispiel eine solche Rechnung aufmachen: Es gibt mindestens drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln hierzulande, anderthalb Millionen haben einen türkischen Pass und sind also beim Referendum wahlberechtigt gewesen. Es sind aber nur rund 660.000 Stimmen abgegeben worden, von denen haben dann 63 Prozent für Erdogans Autokratenträume votiert: Das sind irgendwas um die 13 Prozent aller hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln.

Die geringe Wahlbeteiligung trotz des medialen Dauerfeuers kann man auch nur schwer in ein Argument dafür umbiegen, dass diese Menschen hierzulande im Kopf noch vollständig in der Türkei lebten. Es wird dennoch getan. Natürlich: 13 Prozent sind immer noch zu viel, aber wie groß sind die Anteile derer in den vielen Studien über das Denken der Bundesbürger, die für autoritäre Verhältnisse sind?

Eine weitere Frage betrifft die geteilte politische Landkarte der Türkei, die Grenzen wurden beim Referendum nun noch einmal scharf nachgezogen. Jürgen Gottschlich hat es in der »Taz« so formuliert: »Die säkulare, westlich orientierte Bevölkerung konzentriert sich an der Küste und in bestimmten Stadtteilen von Istanbul und Ankara. Die islamische Provinz übernimmt mit dem jetzigen Sieg die Kontrolle über das Land.«

Man darf annehmen, dass dies in eine Gleichung verallgemeinert wird, weil sich auch in anderen Wahlen anderswo ein teils ganz ähnliches Bild zeigte: Auf dem Land wird reaktionär abgestimmt, die urbanen und modernen Regionen geraten unter die Fuchtel konservativer Reaktion. Da stellt sich die Frage, warum die Provinz politisch so tickt, es liegt ja nicht bloß an der Geografie und auch nicht bloß an der Religion. Es sind soziale und ökonomische Gründe in diesen Gegensatz von Zentrum und Peripherie eingewoben. Über diese muss man nachdenken.

Das gilt auch, und hier sind wir vielleicht wieder beim Thema EU-Beitrittsgesprache, für die Bewertung des nun erklärten Ausgangs des Referendums: Faktisch ist es ein Sieg Erdogans, weil die verfassungspolitischen Folgen nun eintreten. Was, wenn das Nein-Lager gewonnen hätte? Es ist nicht sicher, wie das Regime dann reagiert hätte, man denke nur daran, wie Ankara die Strategie der inneren Spannung radikalisiert hat, nachdem die HDP bei den beiden Wahlen von 2015 ins Parlament eingezogen war. Politisch ist es aber eine Niederlage für Erdogan, denn bei all der einseitigen Propaganda, bei der Einschüchterung und Verfolgung des Nein-Lagers, bei all der unrechtmäßigen Wahlwerbung bis zum Teil ins Wahllokal hinein – hat es Erdogan eben doch nur geschafft, eine knappe Mehrheit hinter sich zu bringen. Der Präsident will Kaiser sein, aber der Kaiser ist nackt.

Was bedeutet es eigentlich, wenn in Abstimmungen mit so grundlegenden Weichenstellungen wie der Frage einer autoritären Präsidialverfassung, eines Austritts aus der EU oder bei Wahlen, in denen Staatspräsidenten der radikalen Rechten zur Abstimmung stehen, die Bevölkerungen sich so dezidiert gespalten zeigen in ihren politischen Haltungen?

In der Türkei hat die Hälfte für den Erhalt demokratischer Regeln und gegen Erdogans Diktatur votiert. In den USA hat die Hälfte gegen Trump und dessen Programm des autoritären Neoliberalismus gestimmt. In Österreich ging die Wahl zum Bundespräsidenten nur knapp für den grün-bürgerlichen van der Bellen aus, beinahe hätte die Rechtsaußen-FPÖ das Staatsoberhaupt gestellt. Und die Lage nach dem knappen Brexit-Votum in Großbritannien ist auch nicht anders: ein gespaltenes Land. Wie ist es um die Integrationsfähigkeit solcher Gesellschaften bestellt, was ist im Falle zusätzlicher, etwa externer ökonomischer Schocks da zu erwarten? Und was hätte das für weitere Folgen?

Wenn Besonnenheit nicht heißt, sich vor Erdogan wegzuducken, wie es viel zu oft geschehen ist, sondern sich bei aller inneren Empörung, bei aller zerreißenden Sorge um die Leute in der Türkei nun dennoch nicht zu Forderungen hinreißen zu lassen, bei der die Folgen nicht hinreichend bedacht wären, dann ist Besonnenheit richtig.

Eine Aufkündigung des beschämenden Flüchtlingspaktes mit Ankara zum Beispiel lässt sich leicht propagieren, schwerer wird es, wenn man sich die Frage auch stellt, was dann mit den Geflüchteten geschieht, welche Last das für die SYRIZA-geführte Regierung in Griechenland bedeuten würde und vor allem: wie die nötige EU-weite Solidarität bei der Aufnahme von Menschen in Not denn nun praktisch hergestellt werden kann. Und auch darüber muss man sich Rechenschaft ablegen: Das, was jetzt völlig zu Recht als Ritt in die türkische Autokratie kritisiert wird, passiert, in Abwandlungen zwar, aber substanziell ähnlich, auch anderswo. Hat uns dies in jedem Fall genauso empört, bewegt, in Sorge gebracht? Und last not least: Wo jetzt doch alle danach rufen, Solidarität mit der demokratischen Opposition in der Türkei zu zeigen – ja doch, aber wissen wir auch, wie das konkret, praktisch gehen kann?

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